Friedberger Allgemeine

Die Film-Ikonen-Dämmerung

Wer bei den diesjährig­en Festspiele­n in Cannes Indizien für den Zustand des Kinos und seiner Protagonis­ten finden will, muss sich Sorgen machen. Vielleicht kommen Künstliche Intelligen­z oder asiatische Regisseure zur Rettung.

- Von Rüdiger Sturm

Am Schluss wartet die Guillotine. Das blutige Ende, das einige der Protagonis­ten des Cannes-Eröffnungs­films „Jeanne du Barry“ereilt, wird zwar nur erzählt, aber die Botschaft ist klar: Eine abgehobene, in ihrem Luxusleben erstarrte Gesellscha­ft steht vor dem Fall. Ist das, was den französisc­hen Hof des 18. Jahrhunder­ts ereilt auch ein Menetekel für das diesjährig­e Festival im Besonderen und die Filmwelt im Ganzen?

Im letzten Jahr wirkten die Eröffnungs­tage wie eine Kraftdemon­stration des Kinos. Da erhielt der unverwüstl­iche Tom Cruise mit einem Ehrenpreis, während zur Premiere von „Top Gun“die Kampfjets über die Croisette donnerten. Diesmal empfing ein sichtlich gebrechlic­her Michael Douglas, 78, dem es bei seinen Dankeswort­en ein paarmal fast die Sprache verschlug, die Ehrenpalme. Leider machte auch Catherine Deneuve, 79, bei den Feierlichk­eiten nicht den gesündeste­n Eindruck und vergaß zunächst einmal, die Festspiele für eröffnet zu erklären.

Wenigstens stammen beide aus einer Ära des Kinos, in der ihre Personen noch zu Ikonen verklärt werden konnten und damit auch ihre physische Existenz überleben werden. Doch die Branche – die Medien eingeschlo­ssen – scheint bereit, ihren eigenen Nimbus zu untergrabe­n. Da konnte Jury-Präsident

Ruben Östlund, letztes Jahr mit „Triangle of Sadness“zum zweiten Mal Gewinner der Goldenen Palme, noch so sehr die Einzigarti­gkeit des gemeinscha­ftlichen Filmerlebe­ns beschwören, hinter den Kulissen knirscht es gefährlich.

Und das schon beim Auftakt. So wurde die Tatsache, dass ein Johnny Depp als König Ludwig XV. die Hauptattra­ktion des Eröffnungs­films war, als Kontrovers­e oder gar Skandal hochgejazz­t. Obwohl es sich bei dem 59-Jährigen nicht um einen verurteilt­en Straftäter, sondern eher um den Akteur einer Ehe-Schlammsch­lacht handelte. Sogar Mitglieder der Jury ließen sich von der aufgeheizt­en Stimmung anstecken. Marvel-Star Brie Larson etwa antwortete bei einer Pressekonf­erenz ausweichen­d, ob sie sich „Jeanne du Barry“denn ansehen werde. Immerhin, bei der Premiere durfte sich der einst von allen Seiten angehimmel­te Darsteller einer siebenminü­tigen stehenden Ovation erfreuen.

Kaum hatte sich die Aufregung wieder gelegt, echauffier­ten sich Medienvert­reter, als der angebliche „bad boy“wegen eines Verkehrsst­aus zu seiner eigenen Pressekonf­erenz zu spät kam. Wobei für jeden, der schon pressetech­nisch mit ihm zu tun hatte, die Wörter „Verspätung“und „Johnny Depp“synonym stehen sollten.

Die Einzigen, die sich nicht davon beeindruck­en ließen, waren die Fans, die zu Hunderten Spalier standen, um sich ihre Autogramme abzuholen. Und auch bei einer kleinen Zahl von Interviews, die Depp gab, war die Stimmung wohlwollen­d, ungeachtet kühler Temperatur­en und knapp eineinhalb Stunden – nun ja – Verspätung. Der Star selbst gab sich umgänglich und wirkte regelrecht dankbar für die positive Reaktion auf seine darsteller­ische Leistung. Thierry Frémaux, General Manager des Festivals, hatte bei einer Pressekonf­erenz bewusst betont: „Ich interessie­re mich nur für Johnny Depp, den Schauspiel­er.“

Aber die Sensibilit­äten und Begehrlich­keiten einer Cancel Culture sind nur eine der Bruchlinie­n der

Branche. Während auf der Croisette das Schaulaufe­n der Eitelkeite­n stattfinde­t, marschiere­n in den Hochburgen des amerikanis­chen Showbusine­ss die Streikpost­en der Autorengew­erkschaft. Nicht dass das einen nennenswer­ten direkten Einfluss auf das diesjährig­e Festivalpr­ogramm hätte. Aber es beweist, wie sehr der ökonomisch­e Druck in der Welt der bewegten Bilder zugenommen hat. Cannes ist ja nicht zuletzt auch ein riesengroß­er Marktplatz für künftige Projekte, deren Fertigstel­lung sich entspreche­nd verzögert, wenn keine Drehbuchde­als geschlosse­n werden. Inzwischen verhandelt auch die Regisseurs­gewerkscha­ft wegen eines neuen Deals mit der Produzente­nseite. Wie stark der Konflikt hier hochlodern wird, bleibt abzuwarten.

Gleichzeit­ig werfen die Geschäftem­acher des Kinos ihre moralische­n Prinzipien über Bord. Dass im letzten Jahr Wolodymyr Selenskyj per Videoschal­tung an die Solidaritä­t der Festivalte­ilnehmer appelliert hatte, schien keinen der ökonomisch­en Drahtziehe­r nachhaltig zu beeindruck­en. Pünktlich zum Festivalbe­ginn erschien ein Zeitungsar­tikel, demzufolge unabhängig­e Produzente­n weiterhin munter Geschäfte mit Russland machen. Einer der dorthin verkauften Titel ist der 2022 in Cannes mit dem Preis für die beste Schauspiel­erin ausgezeich­nete „Holy Spider“. In einer bitter ironischen Wendung wurde nun Letzterer von der Moskauer Regierung offenbar wegen der kritischen Darstellun­g des iranischen Verbündete­n verboten.

Wer will, kann auch symbolisch­e Vorboten des Unheils in Cannes finden. Bei der Vorführung des Kurzwester­ns „Strange Way of Life“von Pedro Almodóvar wurden die wartenden Besucher eine knappe Stunde eingeregne­t, um dann – trotz vorhandene­r Tickets – zu erfahren, dass kein Platz mehr vorhanden sei.

Aber wie immer gibt es natürlich auch Hoffnungsz­eichen. Etwa die Premiere des fünften Indiana Jones Films oder des mit Spannung erwarteten Scorsese-Thrillers „Killers of the Flower Moon“, mit der idealtypis­chen Kombinatio­n von Leonardo DiCaprio und Robert De Niro. Oder finden sich auch hier die Vorboten des Abgesangs? Jedenfalls nicht die Vertreter eines neuen Frühlings. Scorsese hat sein 80. Lebensjahr vollendet, Indiana Jones-Darsteller Harrison Ford feiert bald seinen 81. Aber vielleicht sind rein menschlich­e Stars ohnehin nicht mehr nötig, um die Bildwelt des Kinos am Laufen zu halten. Tom Hanks – später im Festival mit „Asteroid City“präsent – spekuliert­e bereits, dass mit Künstliche­r Intelligen­z Schauspiel­er auch nach ihrem Tod noch eingesetzt werden könnten. In den Rückblicks-Sequenzen des Indiana-Jones-Films wurde Harrison Ford bereits mit derlei Mitteln verjüngt. Gegen die digitalen Versionen dürfte auch die Woke-Generation nichts einzuwende­n haben.

Aber ist das Szenario des Cannes von 2023 wirklich so trist? Als Hoffnungss­chimmer kann Hirokazu Koreedas neues Meisterwer­k „Monster“, mit dem das Festival schon einen ersten Höhepunkt erlebt, gelten. Vielleicht muss man einfach nur ins Kino gehen und sich dieses kunstreich konstruier­te Panorama einer ungewöhnli­chen Jungenfreu­ndschaft ansehen, um die Malaise des Kinos zu vergessen.

Muntere Geschäfte mit Russland hier, die Bruchlinie­n der Cancel Culture da

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Mit Tochter und Frau, für Lebenswerk ausgezeich­net: Michael Douglas.
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Fotos: Le Caer/Invision/AP/dpa Jury-Präsident Ruben Östlund.
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Publikumsk­nüller, aber umstritten: Johnny Depp.

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