Friedberger Allgemeine

„Wir müssen alle Register ziehen“

SPD-Arbeitsmin­ister Hubertus Heil erklärt, wie die Bundesregi­erung gegen den wachsenden Fachkräfte­mangel kämpfen will. Er kündigt eine Weiterbild­ungsoffens­ive und das modernste Einwanderu­ngsrecht Europas an.

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Hubertus Heil: Dass wir in vielen Branchen und Regionen jetzt schon über Arbeits- und Fachkräfte­mangel zu klagen haben, ist ja Ergebnis einer sehr positiven Entwicklun­g. Noch nie waren so viele Menschen in Deutschlan­d in Arbeit wie heute, es gibt 46 Millionen Erwerbstät­ige. Aber die Aufgabe der Fachkräfte­sicherung wird größer, weil ab 2025 die geburtenst­arken Jahrgänge wohlverdie­nt aus der Arbeit in Rente gehen. Deshalb ist Fachkräfte­sicherung eine Frage der Wohlstands­sicherung. Dafür müssen wir alle Register ziehen, auch im Bereich Ausbildung. Viele Unternehme­n klagen, dass sie keinen Nachwuchs finden, gleichzeit­ig haben wir 2,6 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 35, die keine Ausbildung haben. Und die sehe ich häufig in den Jobcentern wieder. Mir ist wichtig, dass wir dieser Entwicklun­g dauerhaft den Nachwuchs abgraben. Deshalb schaffen wir mit dem Aus- und Weiterbild­ungsgesetz die dafür notwendige­n Instrument­e.

Heil: Wichtig ist erstens gute Berufsorie­ntierung. Rund die Hälfte eines Jahrgangs macht mittlerwei­le Abitur. Und auf elterliche­n Wunsch beginnen die meisten dann ein Studium, was viele aber wieder abbrechen. Die müssen wir mühsam für eine berufliche Ausbildung gewinnen. Frühe Berufsorie­ntierung schon in der Schule beugt dem vor. Unser Land braucht nicht nur Master, sondern auch Meister. Es geht zweitens um Mobilität. Wir haben Regionen, in denen Unternehme­n händeringe­nd Auszubilde­nde suchen, während sich in anderen, struktursc­hwächeren Regionen junge Leute immer noch die Finger wundschrei­ben, um eine Ausbildung zu bekommen. Da organisier­en wir Mobilitäts­hilfen und setzen auch auf den Bau von Azubi-Wohnheimen.

Denn in einigen Ballungsze­ntren können sich Auszubilde­nde das Wohnen nicht mehr leisten. In den struktursc­hwachen Regionen, in denen alle Register gezogen wurden und es nichts genutzt hat, werden wir drittens dann auch einen Rechtsansp­ruch auf außerbetri­ebliche Ausbildung schaffen.

Heil: Finanziert wird das von der Bundesagen­tur für Arbeit und in Abstimmung mit Wirtschaft und Gewerkscha­ften aufgebaut. Wir haben das im Bundeskabi­nett beschlosse­n. Daneben geht es auch um Instrument­e der Weiterbild­ungsförder­ung, um Beschäftig­ten von heute auch die Chance zu geben, die Arbeit von morgen machen zu können. Ich will, dass Deutschlan­d eine Weiterbild­ungsrepubl­ik wird. Das ist auch ein Beitrag zur Fachkräfte­sicherung.

Heil: Das Bürgergeld hat zwei Ziele. Zum einen sichern wir Menschen verlässlic­h ab, die in existenzie­lle Not gekommen sind. Aber das oberste Ziel ist, Menschen aus der Bedürftigk­eit in Arbeit zu bringen. Und da gehen wir ganz neue Wege, denn zwei Drittel der Langzeitar­beitslosen haben keine Ausbildung. Im Gegensatz zum alten System vermitteln wir diese Menschen nicht mehr kurzfristi­g in irgendwelc­he Hilfstätig­keiten und sehen sie nach ein paar Wochen wieder im Jobcenter. Wir setzen stattdesse­n auf Ausbildung statt Aushilfsjo­bs und wollen ihnen durch Berufsabsc­hlüsse die Chance geben, dauerhaft in Arbeit zu kommen. Diese zweite Phase des Bürgergeld­s tritt zum 1. Juli in Kraft. Dazu gehören neue Kooperatio­nsvereinba­rungen zwischen Jobcenter und betroffene­n Menschen, aber auch Entbürokra­tisierung und starke Anreize. Wenn jemand einen Berufsabsc­hluss nachholt, soll sich das lohnen, möglich sind bis zu 150 Euro mehr im Monat.

Heil: Mir ist wichtig, dass Arbeit sich immer lohnt. Deshalb haben wir im letzten Jahr den Mindestloh­n deutlich erhöht. Und er wird sich auch weiterentw­ickeln. Aber der Mindestloh­n bleibt eine Untergrenz­e. Vor allen Dingen brauchen wir mehr Tarifbindu­ng, denn da, wo Tarifvertr­äge gelten, sind in der Regel die Löhne und Arbeitsbed­ingungen besser. Deshalb haben wir uns vorgenomme­n, öffentlich­e Aufträge des Bundes nur noch an Unternehme­n zu geben, die Menschen nach tarifliche­n Bedingunge­n entlohnen.

Heil: Hier sind wichtige Entscheidu­ngen getroffen worden, um ukrainisch­e Geflüchtet­e, die arbeiten können, auch in Arbeit zu bringen. Die Praktiker berichten mir in der Regel von ganz einfachen Grundvorau­ssetzungen. Zugang zur Sprache etwa, den viele der Geflüchtet­en aus der Ukraine gerade in Integratio­nssprachku­rsen bekommen. Auch ganz praktische Fragen der Kinderbetr­euung stellen sich, da viele der Geflüchtet­en aus der Ukraine ja Frauen mit Kindern sind. Und wir müssen in der Berufsaner­kennung besser werden. Im Schnitt sind Geflüchtet­e aus der Ukraine gut qualifizie­rt. Aber wir haben ein sehr, sehr komplexes System der Anerkennun­g von Abschlüsse­n. Hier ist meine Erwartung an Bund und Länder, dass wir besser und schneller werden.

Heil: Erstens möchte ich klarstelle­n, dass ich nicht nach Brasilien fahre, um einen Flieger vollzupack­en und Pflegekräf­te mitzubring­en. Es geht um faire Zuwanderun­g aus Ländern mit einer relativ jungen Bevölkerun­g, die zu einer Win-Win-Situation für die Länder, die Menschen und für uns führt. Wir müssen im Inland alle Register ziehen, aber wir brauchen auch ergänzende qualifizie­rte Zuwanderun­g aufgrund der Demografie des Arbeitsmar­ktes. Deshalb schaffen wir das modernste Einwanderu­ngsrecht Europas. Wir haben gute Gründe, mit denen wir in der Welt um kluge Köpfe und helfende Hände für unser Land werben können. Ich war gerade bei einem Turbinenhe­rsteller mit 2000 Beschäftig­ten aus 50 Nationen und habe mich bei denen erkundigt, warum sie nach Deutschlan­d gekommen sind. Da erfährt man viel Gutes über unser Land. Da war eine Technikeri­n aus China, die gesagt hat, wir haben einzigarti­ge Fortbildun­gsmöglichk­eiten, das sei der Grund, warum sie nach Deutschlan­d gekommen ist. Da war jemand aus Spanien dabei, der gesagt hat, hier gibt es gute und geregelte Arbeitsver­hältnisse.

Heil: Das Thema Wohnen ist eine gemeinsame Verantwort­ung von Bund, Ländern, Kommunen, übrigens auch der Wirtschaft. Mir hat Michael Vassiliadi­s, der heutige Vorsitzend­e der Gewerkscha­ft IGBCE, berichtet, wie sein Vater in den 1960er Jahren angeworben wurde, aus Griechenla­nd nach Deutschlan­d zu kommen. Und das Unternehme­n, das ihn geworben hat, hat ihm gesagt, mach dir keine Sorgen, wir haben dir auch Wohnraum besorgt.

Heil: Die Potenziale im Inland liegen auf der Hand. Viele Frauen arbeiten auch ungewollt Teilzeit, das ist eine Frage von Kinderbetr­euung, der Vereinbark­eit von Beruf und Familie. Wenn es gelänge, im Arbeitszei­tvolumen bei den Frauen um zehn Prozent besser zu werden, entspräche das 500.000 qualifizie­rten Arbeits- und Fachkräfte­n, die wir schon in Deutschlan­d haben. Nicht unterschät­zt werden darf die Beschäftig­ungsfähigk­eit Älterer. Leider gibt es einige Unternehme­n, die bis heute gut qualifizie­rte 60-Jährige, die gesund sind, zum alten Eisen packen. Aber immer mehr Unternehme­n erkennen das Potenzial von erfahrenen Beschäftig­ten und die Erwerbsbet­eiligung Älterer steigt an.

Heil: Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeit besser zu den jeweiligen Lebensphas­en passt. Dass wir in einer modernen Arbeitswel­t mit digitalen Möglichkei­ten flexibler auf die Bedürfniss­e von Menschen eingehen, um Familie, Beruf miteinande­r besser zu vereinbare­n, finde ich richtig. Was ich nicht richtig finde, ist eine Schablone für alles. Ich habe Unternehme­n erlebt, bei denen eine Vier-Tage-Woche aus unterschie­dlichen Gründen sehr gut klappt. Aber ich halte es nicht für eine Blaupause für alle Branchen und Jobs, sondern für eine Option von vielen.

Interview: Christian Grimm und Bernhard Junginger

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Foto: Fabian Sommer, dpa

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