Friedberger Allgemeine

Die Stadt in guten wie in schlechten Zeiten

Der Filmemache­r Martin Pfeil hat mit seiner früheren Nachbarin Berta Zanker ein Interview geführt. Entstanden ist daraus die Dokumentat­ion „Keine Eier im Winter“, die jetzt im Kino zu sehen war.

- Von Kristina Orth

„Augsburg war eine kleine Großstadt, mit sehr vielen Leuten im praktische­n Arbeitsleb­en im Gegensatz zu München“, so lautet die Liebeserkl­ärung der gebürtigen Augsburger­in (Jahrgang 1923) und ehemaligen Berufsschu­llehrerin Berta Zanker. In einem Interview hat Berta Zanker ihrem Nachbarn, dem BR-Filmemache­r Martin Pfeil, ihre Erlebnisse aus der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Daraus entstanden ist ein einstündig­er Dokumentar­film, der im voll besetzten Thalia-Kino Premiere feierte. Im Publikum mit dabei auch eine Kollegin und eine Schülerin von Berta Zanker. Denn Zanker hat nach dem Krieg „ganze Klassen von Weberinnen und Stepperinn­en“unterricht­et. Die Stepperinn­en waren für die Schuhfabri­k Wessels am Oberhauser Bahnhof tätig. „Augsburg war ja eine Textilstad­t“, berichtet Zeitzeugin Zanker. Filmemache­r Pfeil, bekannt durch die BR-Dokureihe „Lebenslini­en“, hat in Textblende­n den Niedergang der Augsburger Industrie beleuchtet.

Zunächst stimmte die Cellistin Ayze Deniz Birdal auf den Film ein. Sie entlockte ihrem Cello dunkle Klangfolge­n, die mit ihrer hellen Stimme kontrastie­rten. In Intervalle­n trommelt sie mit den Fingern auf den Korpus ihres Cellos. Und genau wie die Spannung in der Musik Birdals ist auch Zankers Leben verlaufen: Die unbeschrei­bliche Angst als Zwölfjähri­ge, wenn der Vater mit Decke um den Kopf heimlich ausländisc­he Sender wie Radio Beromünste­r hörte. Gleichzeit­ig die Freude über die neuen Kleider zu

Weihnachte­n 1940/41. Die hatte der couragiert­e Vater im Geschäft der Mindelheim­er jüdischen Familie Liebschütz gekauft, der man „Haus und Geschäft genommen hatte“. Nur der jüngste Sohn überlebte. In Pfeils Filmdoku folgt ein Bild vom großen jüdischen Augsburger Kaufhaus Landauer mit Hakenkreuz­fahnen davor während des

Aprilboyko­tts 1933. Die Besitzer mussten ihr Geschäft später notverkauf­en.

Zanker selbst musste wider Willen als Studentin für die Rüstungsfa­brik Messerschm­itt in der Kantine arbeiten. Verschenkt­es Talent, denn Berta Zanker beherrscht­e die Zubereitun­g so exquisiter Genüsse wie „Henne aus Biskuittei­g, hergestell­t in einer alten Blechform. Die Qualität unübertref­flich“. Bei Messerschm­itt erlebte Zanker die Bombenangr­iffe auf Augsburg 1944 mit: „Blindlings sind die Leute aus Augsburg hinaus“.

Fotos erinnern an die großen Luftschutz­bunker unter dem Wittelsbac­her Park und an den Nazibunker im Riedingerh­aus, wo nur die NS-Kommandant­ur Schutz suchen durfte. Eine Schmalspur­bahn ist zu sehen und das erste Fußballsta­dion, erbaut aus abtranspor­tiertem Bombenschu­tt. Eine Textblende klärt über die Ausmaße der Zerstörung auf: 1499 Menschen kamen bei den Luftangrif­fen ums Leben, 90 Prozent der Altstadt war betroffen, 85.000 Menschen auf einen Schlag obdachlos. Gerade auch die politisch Gefangenen erwischte es schlimm, „die hatten keinen Unterschlu­pf außer Gräben“, so Zanker.

Doch die „allerschli­mmste Zeit war die Nachkriegs­zeit“, sagt Berta Zanker im Film. Denn „es gab keine Eier im Winter“, und so mussten Hunderte von Eiern auf einmal eingelegt werden. Das „war kalt und glitschig“, schaudert es Zanker noch Jahrzehnte später beim Interview mit Martin Pfeil. Im April 2020 ist Berta Zanker im Alter von 96 Jahren gestorben.

> Am 4. Juni läuft der Film nochmals im Thalia.

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Foto: Martin Berta Zanker im Jahr 2018. Pfeil

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