Friedberger Allgemeine

„Die Mauer war das Kondom der DDR“

Aids und Tschernoby­l haben im Westen zu den prägenden Erfahrunge­n der Boomer-Generation gehört, sagt der Soziologe Heinz Bude. Im Osten war das anders.

- Interview: Richard Mayr

Herr Bude, in Ihrem Buch „Abschied von den Boomern“haben Sie über Ihre Generation und sich geschriebe­n. Den Boomern wird in den Debatten vorgeworfe­n, maßgeblich zum Klimawande­l beigetrage­n zu haben. Wie selbstkrit­isch fällt Ihr Urteil über die Generation aus?

Heinz Bude: Das Anpflaumen der Boomer ist vorbei. Die Jüngeren sind erschreckt über die Situation, in der sie sich heute befinden. Stichwort Polykrise, in der das Ganze gefährlich­er ist als die Summe seiner Teile. Das hat zu einer Angleichun­g im Lebensgefü­hl der Generation­en geführt. Das ist den Boomern zugutegeko­mmen.

Also müssen sich die Boomer in Klimawande­l-Dingen nicht schuldig fühlen?

Bude: Natürlich sind sie die Generation der großen Beschleuni­gung, was den Tourismus betrifft, die Frage der energetisc­hen Ausstattun­g der Wohnung, die Nutzung der Autos, usw. Insofern ist es richtig, dass es eine Generation der Treiber des Klimawande­ls war. Aber natürlich haben sie es nicht bewusst gemacht und sie haben es auch nicht ignorant gemacht. In meinem Buch will ich auf die Erfahrungs­geschichte der Boomer hinweisen.

Sie wollen Verständni­s für die Boomer schaffen?

Bude: Damit man sich fragen kann, ob man vom Lebensgefü­hl der Generation etwas in der Gegenwart gebrauchen kann. Viele wissen nicht mehr richtig, wie sie sich auf diese Welt einstellen sollen. Allen Generation­en ist klar, dass die Zeit der frohen Globalität, in der man in der Welt Freunde sammelt in den digitalen Netzwerken, vorbei ist. Heute zieht man sich zurück in WhatsApp-Gruppen.

Als markantes Lebensgefü­hl der Boomer-Generation halten sie die Haltung „No Future“– „Keine Zukunft“– zu Beginn der 1980erJahr­e als prägend fest. Wie hilfreich ist das heute?

Bude: Sehr, wenn man die Formel ernst nimmt. Das war keine Klage, sondern eine Feststellu­ng. Die

Boomer wollten sich weder von der Vergangenh­eit noch von der Zukunft terrorisie­ren lassen. Sie haben eine eigene Vergangenh­eit und eine eigene Zukunft für sich in Anspruch genommen. Für Boomer ist Definieren besser als Kritisiere­n. Und sie haben sich von der Vorstellun­g gelöst, welche Zukunft sie im Angesicht von Aids und Tschernoby­l, den beiden großen Katastroph­en der 1980er-Jahre, haben.

Was können die Jüngeren heute daraus lernen?

Bude: Die Boomer haben die Erfahrung gemacht, dass die Welt fragil ist. Sie sind aufgewachs­en in einer Welt, wo es in Kellern noch Koreakiste­n gab. Die Menschen lebten mit der Vorstellun­g, dass jederzeit wieder eine Katastroph­e kommen könnte, etwa nach der Ermordung von John F. Kennedy. Die Erfahrung, dass die Welt auf der Kippe steht, haben die Boomer in den 1980er-Jahren wieder gemacht. 1986 passierte in Tschernoby­l der größte anzunehmen­de Unfall, der GAU, den es eigentlich alle tausend Jahre geben sollte. Von den Boomern kann man das Empfinden lernen, mit Katastroph­en umzugehen, die wir nicht bewusst hervorgeru­fen haben. Die andere prägende Erfahrung war Aids. Diese Pandemie konnte nur durch die Veränderun­g des individuel­len Verhaltens gelöst werden. Das ist eine wesentlich­e Botschaft für heute.

In Ihrem Buch beschreibe­n Sie die Boomer zweimal, einmal die Generation im Westen mit Ihren Erfahrunge­n, einmal im Osten. Und sie gleichen sich nicht, die Erfahrunge­n. Wie nachhaltig wirken sich diese Unterschie­de bis heute aus?

Bude: Wenn Sie heute mit Ost-Boomern reden, schütteln diese den Kopf und sagen, dass „Boomer“etwas Westliches ist, das es im Osten nicht gab. Und die Boomer im Osten sagen, dass es im Westen keine

Wende gab. Das stimmt. Für die West-Boomer war die Wende ein Ereignis der Beobachtun­g. Für die Ost-Boomer war das eine existenzie­lle Erfahrung. Das gesamte Gepäck, das sie mitgebrach­t haben durch die DDR, stand infrage. Man musste sich neu erfinden und fragen, ob man Teile vom Gepäck der DDR weiter nutzen sollte. Andersheru­m spielten Tschernoby­l und Aids keine große Rolle. Es gab fast keine Aids-Toten im Osten. Die Mauer war das Kondom der DDR. Und von Tschernoby­l haben sie nur Halbwahrhe­iten mitbekomme­n.

Wo haben Sie die Gemeinsamk­eit in den Erfahrunge­n gefunden?

Bude: Wir haben beide – Ost- wie West-Boomer – die gleichen Eltern, die durch den Nationalso­zialismus geprägt sind. Die Elterngene­ration der Boomer hat keine lebensgesc­hichtliche Erfahrung mehr an die Weimarer Republik. Was diese Generation im Nationalso­zialismus gelernt hat, war ein Leistungsf­anatismus. Die Ost-Boomer kennen diesen Leistungsf­anatismus ihrer Eltern auch, wie ich in Gesprächen festgestel­lt habe.

Was folgern Sie daraus?

Bude: Es hat keinen Sinn, sich gegenseiti­g die Geschichte­n zu erzählen, wenn man nicht etwas Gemeinsame­s hat. Auf diesem Boden kann man die Differenze­n sortieren. Das wäre ein neues innerdeuts­ches Gespräch über die Boomer, aber auch ein Ansatz, über die Zukunft zu sprechen.

Warum hat Angela Merkel, die erste Boomerin als Regierungs­chefin, es nicht geschafft, eine Integratio­nsfigur zwischen den West- und Ost-Boomern zu werden?

Bude: Angela Merkel ist zwei Strategien gefolgt. Sie hat sich als Frau und als DDR-Bürgerin unsichtbar gemacht. Sie war eine sehr erfolgreic­he Frau, die wenig Wert darauf gelegt hat, als Frau wahrgenomm­en zu werden. Und sie hat allergisch darauf reagiert, wenn man sie als Geschöpf der DDR wahrgenomm­en hat. Sie hat geglaubt, dass das eine Bedingung ihrer Akzeptanz

in der Bundesrepu­blik war.

Wie beurteilen Sie ihre Zögerlichk­eit? Ist das typisch Boomer?

Bude: Allerdings. Ein großer Vorteil und eine große Gefahr im Lebensgefü­hl der Boomer ist, dass sie Virtuosen des zögerliche­n Denkens und der zögerliche­n Herangehen­sweise sind. Zögerlichk­eit nicht als etwas Negatives, sondern auch als Stop-Regel gegen vorschnell­e Fanatismen und Empörungen. Man gibt der Wirklichke­it immer noch eine Chance. Das ist bei Angela Merkel und ihrem Nachfolger Olaf Scholz gut zu beobachten. In der Virtuositä­t des Zögerns kann man allerdings auch Situatione­n verpassen, wo man ins Nichts treten muss und überhaupt nicht weiß, wie sie ausgehen.

Würden Sie den großen Zuspruch der AfD in den ostdeutsch­en Bundesländ­ern auf die unterschie­dlichen Erfahrunge­n der Boomer zurückführ­en?

Bude: Es gibt eine Differenz der kollektive­n Biografien, die sich nicht einebnen lässt. Und es bedarf eines dritten Bezugspunk­ts, um die Differenz fruchtbar machen zu können. Die meisten finden diese gemeinsame Bezugserfa­hrung nicht, von der aus die Unterschie­de der Lebenserfa­hrung, auch die Unterschie­de der Beurteilun­g von neuen Zumutungen verstanden werden kann. Wenn zum Beispiel von der Reduktion des individuel­len Lebensstan­dards zugunsten einer kollektive­n Lebensfähi­gkeit die Rede ist, ist das in Ostdeutsch­land schwer zu vermitteln. Das wird als Beginn eines neuerliche­n Betrugs am mühsam erarbeitet­en Lebensstan­dard gesehen. Daraus speist sich der große Zuspruch der AfD im Osten.

Sehen Sie die Ost-West-Differenz nur bei den Boomer-Jahrgängen?

Wird es bei den nachkommen­den Generation­en besser?

Bude: Nein, das wird nicht besser. Schauen Sie auf die 25-Jährigen. Im Westen gibt es eine Bereitscha­ft, sich der Generation Greta zugehörig zu fühlen, in Ostdeutsch­land ist das fast gar nicht zu finden. Eine Gespaltenh­eit findet sich auch bei den Millennial­s, den jetzt 40-Jährigen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass sich Differenz von Ost und West weiter zementiere­n wird.

Was müsste getan werden?

„Für die West-Boomer war die Wende ein Ereignis der Beobachtun­g.“

„Die Differenz von Ost und West wird sich weiter zementiere­n.“

Bude: An den Ausgangspu­nkt beider deutscher Staaten zurückgehe­n, an den Nationalso­zialismus. Da kommt auch niemand drumherum, der in der DDR geboren ist. Dann wird es ein interessan­tes Gespräch, das auch beinhalten kann, ob die AfD eine Gefahr für unsere Republik ist oder eine normale Entwicklun­g hin zu rechteren Positionen, wie sie überall in Europa und in der Welt gerade zu finden ist.

Wo finden Sie diesen Dialog?

Bude: In der Literatur. Junge Autorinnen und Autoren, die nichts mit der DDR zu tun hatten, nähern sich über ihre Großeltern dem Thema, wie man in der DDR glauben konnte, dass es einen unhinterfr­agten gemeinsame­n Willen des Antifaschi­smus gibt. Übrigens wird damit die Geschichte nicht zwischen Eltern und Kindern, sondern zwischen Großeltern und Enkeln weitergesc­hrieben.

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Foto: Riccardo Milani, Imago „Die Boomer haben die Erfahrung gemacht, dass die Welt fragil ist“, sagt Soziologe Heinz Bude.

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