„Die Mauer war das Kondom der DDR“
Aids und Tschernobyl haben im Westen zu den prägenden Erfahrungen der Boomer-Generation gehört, sagt der Soziologe Heinz Bude. Im Osten war das anders.
Herr Bude, in Ihrem Buch „Abschied von den Boomern“haben Sie über Ihre Generation und sich geschrieben. Den Boomern wird in den Debatten vorgeworfen, maßgeblich zum Klimawandel beigetragen zu haben. Wie selbstkritisch fällt Ihr Urteil über die Generation aus?
Heinz Bude: Das Anpflaumen der Boomer ist vorbei. Die Jüngeren sind erschreckt über die Situation, in der sie sich heute befinden. Stichwort Polykrise, in der das Ganze gefährlicher ist als die Summe seiner Teile. Das hat zu einer Angleichung im Lebensgefühl der Generationen geführt. Das ist den Boomern zugutegekommen.
Also müssen sich die Boomer in Klimawandel-Dingen nicht schuldig fühlen?
Bude: Natürlich sind sie die Generation der großen Beschleunigung, was den Tourismus betrifft, die Frage der energetischen Ausstattung der Wohnung, die Nutzung der Autos, usw. Insofern ist es richtig, dass es eine Generation der Treiber des Klimawandels war. Aber natürlich haben sie es nicht bewusst gemacht und sie haben es auch nicht ignorant gemacht. In meinem Buch will ich auf die Erfahrungsgeschichte der Boomer hinweisen.
Sie wollen Verständnis für die Boomer schaffen?
Bude: Damit man sich fragen kann, ob man vom Lebensgefühl der Generation etwas in der Gegenwart gebrauchen kann. Viele wissen nicht mehr richtig, wie sie sich auf diese Welt einstellen sollen. Allen Generationen ist klar, dass die Zeit der frohen Globalität, in der man in der Welt Freunde sammelt in den digitalen Netzwerken, vorbei ist. Heute zieht man sich zurück in WhatsApp-Gruppen.
Als markantes Lebensgefühl der Boomer-Generation halten sie die Haltung „No Future“– „Keine Zukunft“– zu Beginn der 1980erJahre als prägend fest. Wie hilfreich ist das heute?
Bude: Sehr, wenn man die Formel ernst nimmt. Das war keine Klage, sondern eine Feststellung. Die
Boomer wollten sich weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft terrorisieren lassen. Sie haben eine eigene Vergangenheit und eine eigene Zukunft für sich in Anspruch genommen. Für Boomer ist Definieren besser als Kritisieren. Und sie haben sich von der Vorstellung gelöst, welche Zukunft sie im Angesicht von Aids und Tschernobyl, den beiden großen Katastrophen der 1980er-Jahre, haben.
Was können die Jüngeren heute daraus lernen?
Bude: Die Boomer haben die Erfahrung gemacht, dass die Welt fragil ist. Sie sind aufgewachsen in einer Welt, wo es in Kellern noch Koreakisten gab. Die Menschen lebten mit der Vorstellung, dass jederzeit wieder eine Katastrophe kommen könnte, etwa nach der Ermordung von John F. Kennedy. Die Erfahrung, dass die Welt auf der Kippe steht, haben die Boomer in den 1980er-Jahren wieder gemacht. 1986 passierte in Tschernobyl der größte anzunehmende Unfall, der GAU, den es eigentlich alle tausend Jahre geben sollte. Von den Boomern kann man das Empfinden lernen, mit Katastrophen umzugehen, die wir nicht bewusst hervorgerufen haben. Die andere prägende Erfahrung war Aids. Diese Pandemie konnte nur durch die Veränderung des individuellen Verhaltens gelöst werden. Das ist eine wesentliche Botschaft für heute.
In Ihrem Buch beschreiben Sie die Boomer zweimal, einmal die Generation im Westen mit Ihren Erfahrungen, einmal im Osten. Und sie gleichen sich nicht, die Erfahrungen. Wie nachhaltig wirken sich diese Unterschiede bis heute aus?
Bude: Wenn Sie heute mit Ost-Boomern reden, schütteln diese den Kopf und sagen, dass „Boomer“etwas Westliches ist, das es im Osten nicht gab. Und die Boomer im Osten sagen, dass es im Westen keine
Wende gab. Das stimmt. Für die West-Boomer war die Wende ein Ereignis der Beobachtung. Für die Ost-Boomer war das eine existenzielle Erfahrung. Das gesamte Gepäck, das sie mitgebracht haben durch die DDR, stand infrage. Man musste sich neu erfinden und fragen, ob man Teile vom Gepäck der DDR weiter nutzen sollte. Andersherum spielten Tschernobyl und Aids keine große Rolle. Es gab fast keine Aids-Toten im Osten. Die Mauer war das Kondom der DDR. Und von Tschernobyl haben sie nur Halbwahrheiten mitbekommen.
Wo haben Sie die Gemeinsamkeit in den Erfahrungen gefunden?
Bude: Wir haben beide – Ost- wie West-Boomer – die gleichen Eltern, die durch den Nationalsozialismus geprägt sind. Die Elterngeneration der Boomer hat keine lebensgeschichtliche Erfahrung mehr an die Weimarer Republik. Was diese Generation im Nationalsozialismus gelernt hat, war ein Leistungsfanatismus. Die Ost-Boomer kennen diesen Leistungsfanatismus ihrer Eltern auch, wie ich in Gesprächen festgestellt habe.
Was folgern Sie daraus?
Bude: Es hat keinen Sinn, sich gegenseitig die Geschichten zu erzählen, wenn man nicht etwas Gemeinsames hat. Auf diesem Boden kann man die Differenzen sortieren. Das wäre ein neues innerdeutsches Gespräch über die Boomer, aber auch ein Ansatz, über die Zukunft zu sprechen.
Warum hat Angela Merkel, die erste Boomerin als Regierungschefin, es nicht geschafft, eine Integrationsfigur zwischen den West- und Ost-Boomern zu werden?
Bude: Angela Merkel ist zwei Strategien gefolgt. Sie hat sich als Frau und als DDR-Bürgerin unsichtbar gemacht. Sie war eine sehr erfolgreiche Frau, die wenig Wert darauf gelegt hat, als Frau wahrgenommen zu werden. Und sie hat allergisch darauf reagiert, wenn man sie als Geschöpf der DDR wahrgenommen hat. Sie hat geglaubt, dass das eine Bedingung ihrer Akzeptanz
in der Bundesrepublik war.
Wie beurteilen Sie ihre Zögerlichkeit? Ist das typisch Boomer?
Bude: Allerdings. Ein großer Vorteil und eine große Gefahr im Lebensgefühl der Boomer ist, dass sie Virtuosen des zögerlichen Denkens und der zögerlichen Herangehensweise sind. Zögerlichkeit nicht als etwas Negatives, sondern auch als Stop-Regel gegen vorschnelle Fanatismen und Empörungen. Man gibt der Wirklichkeit immer noch eine Chance. Das ist bei Angela Merkel und ihrem Nachfolger Olaf Scholz gut zu beobachten. In der Virtuosität des Zögerns kann man allerdings auch Situationen verpassen, wo man ins Nichts treten muss und überhaupt nicht weiß, wie sie ausgehen.
Würden Sie den großen Zuspruch der AfD in den ostdeutschen Bundesländern auf die unterschiedlichen Erfahrungen der Boomer zurückführen?
Bude: Es gibt eine Differenz der kollektiven Biografien, die sich nicht einebnen lässt. Und es bedarf eines dritten Bezugspunkts, um die Differenz fruchtbar machen zu können. Die meisten finden diese gemeinsame Bezugserfahrung nicht, von der aus die Unterschiede der Lebenserfahrung, auch die Unterschiede der Beurteilung von neuen Zumutungen verstanden werden kann. Wenn zum Beispiel von der Reduktion des individuellen Lebensstandards zugunsten einer kollektiven Lebensfähigkeit die Rede ist, ist das in Ostdeutschland schwer zu vermitteln. Das wird als Beginn eines neuerlichen Betrugs am mühsam erarbeiteten Lebensstandard gesehen. Daraus speist sich der große Zuspruch der AfD im Osten.
Sehen Sie die Ost-West-Differenz nur bei den Boomer-Jahrgängen?
Wird es bei den nachkommenden Generationen besser?
Bude: Nein, das wird nicht besser. Schauen Sie auf die 25-Jährigen. Im Westen gibt es eine Bereitschaft, sich der Generation Greta zugehörig zu fühlen, in Ostdeutschland ist das fast gar nicht zu finden. Eine Gespaltenheit findet sich auch bei den Millennials, den jetzt 40-Jährigen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass sich Differenz von Ost und West weiter zementieren wird.
Was müsste getan werden?
„Für die West-Boomer war die Wende ein Ereignis der Beobachtung.“
„Die Differenz von Ost und West wird sich weiter zementieren.“
Bude: An den Ausgangspunkt beider deutscher Staaten zurückgehen, an den Nationalsozialismus. Da kommt auch niemand drumherum, der in der DDR geboren ist. Dann wird es ein interessantes Gespräch, das auch beinhalten kann, ob die AfD eine Gefahr für unsere Republik ist oder eine normale Entwicklung hin zu rechteren Positionen, wie sie überall in Europa und in der Welt gerade zu finden ist.
Wo finden Sie diesen Dialog?
Bude: In der Literatur. Junge Autorinnen und Autoren, die nichts mit der DDR zu tun hatten, nähern sich über ihre Großeltern dem Thema, wie man in der DDR glauben konnte, dass es einen unhinterfragten gemeinsamen Willen des Antifaschismus gibt. Übrigens wird damit die Geschichte nicht zwischen Eltern und Kindern, sondern zwischen Großeltern und Enkeln weitergeschrieben.