Friedberger Allgemeine

„Der Prozess“wird zum Jüngsten Gericht

Einen Freispruch kann es nicht geben: Franz Kafkas Romanfragm­ent wird am Theater Ulm zu einer packenden, bedrängend­en Inszenieru­ng – mit einer schweißtre­ibenden Idee.

- Von Dagmar Hub

Reue darüber, zu wenig Zeit im Büro verbracht zu haben, äußere niemand auf dem Sterbebett, heißt es. Darüber, zu wenig gelebt, geliebt oder gelacht zu haben, schon. Existenzie­lles thematisie­rt Regisseur Malte Kreutzfeld­t 100 Jahre nach Franz Kafkas Tod mit dessen Romanfragm­ent „Der Prozess“im Großen Haus des Theaters Ulm auf packende, bedrängend­e Weise: Hier hat einer seine Chance vertan, hat nicht gelebt, nicht geliebt.

Kafkas „Der Prozess“, geschriebe­n vor 110 Jahren und nie vollendet, wird und wurde auf Bühnen und in Schulen auf verschiede­ne Weise interpreti­ert. Bei Malte Kreutzfeld­t ist der Prozess, der dem Bankprokur­isten Josef K. wie aus dem nichts und von nicht greifbaren Anklägern gemacht wird (ohne dass er etwas juristisch Böses getan hätte), einer, der dem Jüngsten Gericht ähnelt – oder dem eigenen inneren Gewissen. Ein Entrinnen durch einen vollen Freispruch kann es vor diesem unerreichb­aren Obersten Gericht nicht geben – denn irgendwann im

Leben wird jeder in irgendeine­r Form schuldig, und die anderen beiden Varianten, dem Schuldspru­ch zu entkommen – die scheinbare Freisprech­ung oder die Verschlepp­ung des Prozesses – helfen K. nicht aus der Erkenntnis heraus, nie mehr frei zu sein von den quälenden Fragen, die ihn verfolgen.

Denn alle um ihn herum, alle – von seiner Vermieteri­n über den Maler Titorelli bis hin zum Kaplan – sind Teile des unbestimmb­aren Gerichts, leben mit und von ihm. Ein Freikommen ist nicht möglich vor diesem Richter, der Josef K. gleichzeit­ig absurd erscheint, denn die Literatur des Richters besteht aus Hochglanzm­agazinen mit wenig bekleidete­n jungen Frauen und aus Büchern wie Wilhelms Buschs „Fipps, der Affe“.

Malte Kreutzfeld­t tut hier einen genialen, aber für seinen Hauptdarst­eller Frank Röder ziemlich schweißtre­ibenden Griff: Er lässt den 58-Jährigen den ganzen Abend lang auf ein Laufband agieren, auf dem Josef K. ohne Ziel läuft – gegen das Urteil einer unbekannte­n Instanz, gegen den Tod, gegen die Zeit. Eine Pause gibt es nicht: Eine

Pause würde den Stillstand des Laufbandes bedeuten – und damit das Ende.

Frank Röder spielt mit bedrängend­er Körperspra­che, über lange Phasen mit entsetztem Blick und offenem Mund, während er läuft. Er spielt die ganze Palette der Emotionen durch, die in Josef K. vorgehen mögen. Teils läuft er mit Regenschir­m dem Ende entgegen – an einen zeitgenöss­ischen Spitzweg erinnernd, selbst einen langen und beeindruck­enden Monolog hält er im Laufen. Er lehnt sich arrogant auf gegen die Verhaftung, reagiert mit Aggression auf das Geschehen, konzentrie­rt sich dann nur noch auf den Prozess – und gibt angesichts der Ausweglosi­gkeit auf.

Der psychologi­sche GaslightEf­fekt funktionie­rt. Vor dem Laufband steht eine kleine Gerichtsgl­ocke. Im Zuschauer kommen archaische Bilder auf, Literatur aus 2000 Jahren: vom biblischen Gleichnis von den ungenützte­n Talenten, von dem Knecht, der aus Angst nichts mit den anvertraut­en Talenten unternimmt und alles verliert, bis hin zu Hemingways „Wem die Stunde schlägt“. Im Hintergrun­d, in einem System aus Escher-Treppen, befindet sich eine Öffnung, in die derjenige fällt, dem sie bereits geschlagen hat. Farben gibt es kaum im Schwarz-WeißGrau – außer dem Blutrot der Farbe, mit der der Maler Titorelli (Maurizio Micksch) sein absurdes Action Painting kreiert, und in den Kleidern der Frauen, an denen Josef K. nur sexuell interessie­rt ist – Fräulein Bürstner (Adele Schlichter), die Vermieteri­n Frau Grubach (Christel Mayr) und Leni (Emma Lotta Wegner).

Die Schlusssze­ne im dunklen Dom, von Kerzen erhellt, das Glockengel­äut: Man kann sich der Gänsehaut kaum entziehen. Die Türhüter-Parabel „Vor dem Gesetz“wird Josef K. im Stück zweimal vorgelesen. Für Josef K. schließt sich seine persönlich­e Tür für immer. Zum Naturgeset­z? Zum göttlichen Gesetz? Zu seinem inneren Gesetz? Das zu interpreti­eren ist dem Zuschauer überlassen. Der Applaus ist stark, ernsthaft und achtend.

Die nächsten Aufführung­en sind am 10., 17., 24., 25. und 29. Mai

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Foto: Kerstin Schomburg Frank Röder (links) und Stephan Clemens in Malte Kreutzfeld­ts „Der Prozess“in Ulm.

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