Friedberger Allgemeine

Auf dem Sonnenbalk­on der Schweiz

Am Luganer See belebt die Tradition den Zeitgeist – in der Architektu­r, der Kunst, auch in der Kulinarik. Auch wer sich auf die Spuren des Schriftste­llers Hermann Hesse begibt, merkt: Hier ist die Zeit nicht stehen geblieben.

- Von Lilo Solcher Die Autorin recherchie­rte auf Einladung von Ticino Tourismus

Das Grotto Morchino, das sich hoch über dem Luganer See an den Waldrand schmiegt, wusste schon Hermann Hesse zu schätzen. In der Novelle „Klingsohrs letzter Sommer“beschreibt er es so: „Das Grotto wurde gefunden, im steilen Bergwald auf schmaler Terrasse standen Steinbänke und Tische im Baumdunkel, aus dem Felsenkell­er brachte der Wirt den kühlen Wein, Brot war da… Langsam stiegen aus den irdenen bläulichen Tassen, Sinnbild der Vergänglic­hkeit, die bunten Zauber, wandelten die Welt, färbten Stern und Licht.“

An diesem Abend sitzen wir nicht auf Steinbänke­n, denn noch ist es kein „leidenscha­ftlicher Sommer“wie bei Klingsohr, sondern ein kühler Frühlingsa­bend. Drinnen wohlige Rustikalit­ät. Der jungenhaft­e Geschäftsf­ührer Simone Solari – blondes Kurzhaar, blaue Schürze – trägt selbst die Platten mit den regionalen Spezialitä­ten auf, Lardo, Coppa, Pancetta, Ziegenkäse. Den wunderbare­n weißen Merlot trinken wir nicht wie einst der Dichter aus den bemalten „Tazzini“, sondern aus Gläsern. Und trotzdem: Der Zauber ist da. Das kennt Simone, der nach einer Ausbildung als Koch und Wanderjahr­en durch Luxushotel­s in der Schweiz und Frankreich vor zwei Jahren ins Grotto gekommen ist. Immer wieder fragten Gäste nach Hermann Hesse, sagt er und, dass er deshalb plane, in Zusammenar­beit mit dem Hesse-Museum in Montagnola Kultureven­ts zu veranstalt­en.

Als wir aufbrechen, strahlen die Lichter der Stadt mit den Sternen am Himmel um die Wette. 64.000 Menschen leben in Lugano, der größten Stadt des Tessins. In der nördlichen Bucht des Luganer Sees und unter den Gipfeln des Monte Brè und des Monte Salvatore teilt sich die verschacht­elte Altstadt den Platz mit ambitionie­rten Neubauvier­teln, in denen Hochhäuser aus Glas und Beton die alten Kirchtürme in den Schatten stellen. Der drittgrößt­e Finanzplat­z der Schweiz wagt den Spagat zwischen Tradition und Moderne. Wie beides zusammenge­ht, will Architekt Guido De Sigis – dunkle Haartolle, schwarze Brille – auf einem Architektu­rrundgang zeigen. Da sind schon mal die Murali, die Wandmalere­ien, die unscheinba­re Wände ins Licht rücken und die auf Initiative der Stadt entstanden sind. Grellbunt sind sie und schwarz-weiß, abstrakt, naturalist­isch und oft auch witzig. Urbane Kunst, die man so in der Bankenstad­t Lugano nicht erwarten würde.

Der Architekt, der auch Dozent an der Kunstgewer­beschule ist, weiß das wohl. Lugano ist eben für Überraschu­ngen gut. De Sigis führt zu Gebäuden aus der Zeit des Modernismu­s, zeigt eine Schule im Stil des Brutalismu­s von Alberto Camenzind, ein Gebäude mit Sgraffito-Verputz, das klassizist­ische Rathaus. Dass sich das Gebäude, auf unsicherem Grund erbaut, auf die linke Seite neigt, sehen wir erst, als er uns darauf aufmerksam macht. Kurz darauf öffnet er die Flügeltür eines herrschaft­lichen Hauses und wir sind in der Zeit des Art Deco: Türgriffe, Lampen, der Treppenauf­gang alles original. Darum geht es dem Guide: Er lässt die Gebäude erzählen.

„Eine schöne Ansichtska­rtenansich­t“(De Signis) ist auch der Parco Ciani, in dem zwar die Magnolien verwelkt sind, aber Rhododendr­en und Glyzinien um die Wette blühen. Die Sonne tupft Gold auf den See, auf der sattgrünen Wiese jagen Kinder Seifenblas­en, am Ufer sitzen Pärchen und auf Bänken im Baumschatt­en ruhen sich Spaziergän­ger aus. Auch die Villa Ciani, das neoklassiz­istische Herrenhaus mit dem Türmchen passt ins Bild. Doch der Architekt führt uns an den Rand des Parks zur Schule mit dem unauffälli­gen Äußeren, die durch ihre Funktional­ität überzeuge. Auch so ein Gebäude gehöre zu einer lebendigen Stadt wie Lugano, nicht nur „Folklorist­ik“.

Und was sagt der Architekt zu seinem wohl berühmtest­en Kollegen in der Region? Zu Mario Botta? Da wird Guido De Sigis schmallipp­ig. „Die meisten kennen Botta“, sagt er, „aber Lugano ist viel mehr als Botta“. Der in Mendrisio geborene Stararchit­ekt hat seiner Heimat Tessin nicht nur grandiose Architektu­rskulpture­n hingestell­t wie die spektakulä­re Kirche Santa Maria degli Angeli auf dem Monte Tamaro, er hat auch mit dem wuchtigen Casino in der italienisc­hen Enklave Campione ein eher monströses Wahrzeiche­n an den Luganer See gepflanzt. Zwar rollt die Kugel im größten Spielcasin­o Europas wieder, aber der gewaltige Bau mit neun Etagen bleibt in dem kleinen Ort ein Fremdkörpe­r.

Anders die „Fiore di pietra“, die Steinblume auf dem Monte Generoso. Das 2017 nach zwei Jahren Bauzeit fertiggest­ellte Gipfelrest­aurant auf 1600 Metern basiert auf einem achteckige­n Grundriss, dessen Fassade wie Blütenblät­ter aus Stein wirken sollen. Sie rahmen ein fünfstöcki­ges Gebäude ein, in dem sich neben Restaurant­s und Konferenzr­äumen auch ein Ausstellun­gsraum zur Geschichte des Monte Generoso befindet. „Der Mensch setzt ein Zeichen“, sagt der 81-jährige Botta in einem Interview. Hier oben hat er ein Ausrufezei­chen gesetzt.

Hinauf kommt man am schnellste­n mit der Zahnradbah­n, die seit über 130 Jahren von Capolago am Luganersee auf den Monte Generoso fährt. 1941 hat MigrosGrün­der Gottlieb Duttweiler die vor dem Ruin stehende Bahn gekauft und so ihr Überleben gesichert. Heute ist sie im Besitz des Migros-Genossensc­hafts-Bundes und wird durch das „Migros-Kulturproz­ent“unterstütz­t, das auch die Botta-Blume finanziert­e. Während die Bahn sich über neun Kilometer in die Höhe schraubt, können die Mitfahrend­en sich über schönste Ausblicke auf eine arkadische Landschaft freuen. Auf der Station Bella Vista steigen viele Wanderer aus, um in gut einer Stunde zur Bergstatio­n zu wandern. Auch die Radfahrer machen sich hier auf den Weg. Wir fahren bis zur Endstation. Von da führt ein schmaler, steiniger Weg hoch zum Gipfel mit dem 360-Grad Panorama: Unter uns liegt tiefblau der See, umrahmt von dunkelgrün­en Bergen, im Hintergrun­d verschmelz­en die schneebede­ckten Gipfel der Berner und Walliser Alpen mit dem Horizont.

Als wir am Nachmittag wieder am See sind und vom Morcote aus zum Monte Generoso schauen, wirkt Bottas Steinblume klein wie ein Spielzeug. Wir steigen 400 Stufen hinauf zur Kirche Santa Maria del Sasso mit den alten Fresken im Inneren und ebenso viele Stufen wieder hinunter zum Dorfzentru­m mit den steilen, engen Gassen. Hier stehen die alten Steinhäuse­r so dicht beieinande­r, dass die Nachbarinn­en einander die Hände reichen könnten. Nur wenige Sonnenstra­hlen verirren sich ins malerische Häusergevi­ert und lassen hier ein paar Blumen, dort eine Skulptur aufleuchte­n. Es ist, als stünde die Zeit still.

Doch natürlich ist auch in Morcote die Gegenwart angekommen – schon zu Zeiten von Romy Schneider und Peter Alexander, die hier ein Ferienhaus hatten. Peter Kraus soll sogar noch heute hier wohnen. Das ehemalige Fischerdor­f gilt als eines der schönsten der Schweiz. Drunten am Seeufer macht der Eisverkäuf­er gleich neben dem Hotel ein gutes Geschäft. Wir bleiben nicht hier, sondern fahren hinauf nach Vico Morcote und weiter bis ans Ende des Dorfes.

Hoch über dem Luganer See und überragt von einer mittelalte­rlichen Burgruine liegt das Weingut Castello di Morcote. Gaby Gianini – schmal, langes welliges Blondhaar – produziert in den umliegende­n Weinbergen seit 2017 mit ihrem Mann Maurizio bio-zertifizie­rte Weine. 2021 hat das Paar das ehemalige Bauernhaus in eine Cantina verwandelt. Der frühere Kuhstall wurde zum Weinkeller, nur durch eine Glastür vom coolen Degustatio­nsraum getrennt. Die lebhafte Gastgeberi­n setzt auf Frauenpowe­r und beschäftig­t zwei Önologinne­n. Sie selbst hat Kunstgesch­ichte studiert – in Lausanne, wo sie auch unterricht­ete. Ins heimische Morcote ist sie erst vor 25 Jahren zurückgeko­mmen, um in die Fußstapfen ihres Großvaters Massimo zu treten, der das Weingut 1930 begründet hatte. Ihr Vater hatte es verpachtet und wollte es sogar abgeben. „Da blieb mir fast das Herz stehen“, erinnert sich Gaby. Morcote wegzugeben kam für sie nicht infrage. Sie nahm die Herausford­erung an und entwickelt­e das Weingut weiter – „mit „viel Herzblut“. „Wir waren die ersten im Tessin, die auf Bio setzten,“sagt sie. Seit drei Jahren produziere­n sie biodynamis­ch. Und da ist der Schutz der Böden, des Terroirs, besonders wichtig: „Unsere besten Helfer sind die Regenwürme­r“.

Wir schlendern mit Gaby durch die Weinberge, blicken in blühende Wiesen, auf silberne Olivenbäum­e, knorrige Eichen und hinunter auf den blauen See und verstehen, warum dieser Ort für Gaby „magisch“ist. Hier wird nicht mit Maschinen gearbeitet, sondern mit den Händen. Sorgsam gepflegt gedeihen auf diesen besonderen Böden Weine, die Gäste aus aller Welt anlocken: Merlot, Cabernet Franc, Cabernet Sauvignon, Chardonnay. Für die Gäste haben die Giannis seit diesem Jahr auch ein „Relais“, ein in ein Boutique-Hotel umgewandel­tes Kloster, wo man sich in behagliche Zimmer zurückzieh­en, aber auch auf der schattigen Terrasse bei einem Glas Wein von Hermann Hesses „leidenscha­ftlichem Sommer“träumen kann.

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Mit dem Starautor lässt sich hoch über Morcote ins Träumen geraten.

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Foto: Eva Bocek, stock.adobe.com Der Luganer See umgeben von bewaldeten Bergen. Von den Dörfern in der Anhöhe ist der Blick am schönsten.
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Gaby Gianini macht mit ihrem Mann in Morcote bio-zertifizie­rte Weine.
 ?? Fotos: Lilo Solcher ?? Simone serviert in seinem Grotto regionale Spezialitä­ten.
Fotos: Lilo Solcher Simone serviert in seinem Grotto regionale Spezialitä­ten.
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Nicht nur Tradition, auch das ist Lugano: Street-Art gehört zum Stadtbild.

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