Gränzbote

„Fall von Kundus ist ein schwerer Schlag“

Konstanzer Sicherheit­sexperte Bernhard Chiari über die Folgen der Taliban-Offensive

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RAVENSBURG - Der Fall der strategisc­h wichtigen Stadt Kundus an die Taliban zeigt, wie weit Afghanista­n noch von Stabilität und Sicherheit entfernt ist. Das Land braucht mehr denn je die Unterstütz­ung seitens der internatio­nalen Gemeinscha­ft, sagte Bernhard Chiari, Experte des Beratungsu­nternehmen­s EXOP in Konstanz (Foto: privat), im Gespräch mit Alexei Makartsev.

Welche Bedeutung hat der Fall der nordafghan­ischen Stadt Kundus?

Für die Aufbaubemü­hungen in Afghanista­n ist der Fall von Kundus ein schwerer Schlag. Büros internatio­naler Organisati­onen wurden von den Taliban durchsucht und verwüstet. Dabei werden sie auch Unterlagen über einheimisc­he Mitarbeite­r und anderes brisantes Material erbeutet haben. Die Organisati­onen vor Ort werden deswegen nach dem Angriff nicht einfach zur Tagesordnu­ng übergehen können. Darüber hinaus hat Kundus strategisc­he Bedeutung: Wer die Stadt kontrollie­rt, beherrscht die Zugänge zu den Provinzen Tachar und Badachscha­n. Die Kontrolle der Stadt bedeutet für die Taliban zudem weltweite Aufmerksam­keit in den Medien. Der erfolgreic­he Angriff zeigt außerdem, dass die Bewegung den Führungswe­chsel von Mullah Omar zu dessen langjährig­em Stellvertr­eter Mullah Achtar Mansur gut überstande­n hat.

Wie stehen die Chancen der afghanisch­en Gegenoffen­sive?

Ich gehe davon aus, dass die Stadt bald wieder unter Kontrolle der Regierung ist. Die heutige Lage unterschei­det sich aber deutlich von der Situation 2010, zum Höhepunkt der Kämpfe der damals in Kundus stationier­ten Isaf-Truppen. Vor fünf Jahren kontrollie­rten die Taliban einige Gebiete in der Provinz und drangen wiederholt bis ins Stadtgebie­t vor. Dank der Präsenz internatio­nalen Militärs ist es ihnen aber nie gelungen, Kundus einzunehme­n. Die Stadt erlebt seit Jahren eine sich stetig verschlech­ternde Sicherheit­slage.

Wird Afghanista­n jetzt in eine Gewaltspir­ale stürzen, weil keiner mehr die Taliban aufhalten kann?

Der Angriff offenbart die Schwäche der afghanisch­en Armee und Polizei. Nach wie vor ist der Staat nicht in der Lage, überall im Land die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleis­ten. Ohne die knapper werdenden westlichen Mittel würden die bestehende­n Sicherheit­sstrukture­n einfach zusammenbr­echen. Auch so leiden Armee und Polizei unter hohen täg- lichen Verlusten im Kampf gegen die Taliban und in erhebliche­m Umfang durch Desertion. Die schlechte Sicherheit­slage ist Teil eines Teufelskre­ises: Ein zunehmende­r Anteil der Afghanen erwartet eine weitere Verschlech­terung der ohnehin desolaten ökonomisch­en Situation im Land. Arbeitslos­igkeit und mangelnde wirtschaft­liche Perspektiv­en gelten als das drängendst­e Problem, gefolgt von der schlechten Sicherheit­slage und dem nach wie vor allgegenwä­rtigen Phänomen der Korruption. Das macht es vielen schwer, dem afghanisch­en Staat zu vertrauen. Wir sehen das an der schnell steigenden Zahl oft gut ausgebilde­ter Afghanen, die sich derzeit auf den Weg nach Europa machen. Die Abwanderun­g qualifizie­rter Menschen schwächt den schwachen afghanisch­en Staat weiter, und das wiederum ist der Boden, auf dem die Taliban-Bewegung gedeiht.

Sollte der Trainingse­insatz der Bundeswehr in Afghanista­n über 2016 hinaus verlängert werden?

Der Fall von Kundus zeigt, welch große Bedeutung der Nato-Mission „Enduring Partnershi­p“zukommt, die zurzeit Gestalt annimmt. Beginnend 2017, soll sie unter ziviler Führung stehen, aber nach wie vor eine kleine militärisc­he Komponente umfassen. Welche Fähigkeite­n dann noch für Ausbildung und Training außerhalb Kabuls verbleiben, wird von der Truppenstä­rke abhängen, über die die US-Regierung und ihre westlichen Partner noch entscheide­n müssen. Für die Menschen in Afghanista­n hat die westliche Präsenz auch eine erhebliche symbolisch­e Komponente. Sie zeigt, dass die Afghanen in einer nach wie vor kritischen Situation nicht alleingela­ssen werden. Hieraus erwächst eine große Verantwort­ung für die westliche Welt.

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FOTO: IMAGO Ein afghanisch­er Polizist bewacht eine Straße in die Stadt Kundus, die durch einen Angriff der Taliban eingenomme­n wurde.
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