Kretschmann hat keine Angst vor Ende der fetten Jahre in China
Ministerpräsident sieht Wachstumsschwäche auch als Chance für Baden-Württemberg
PEKING - Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sieht im abflauenden Wirtschaftswachstum in China auch Chancen für die Wirtschaft im Südwesten. Kretschmann bereist derzeit an der Spitze einer 120 Mitglieder starken Delegation aus BadenWürttemberg die Volksrepublik. Die Fahrt steht im Zeichen einer Konjunkturabkühlung in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt: Nach jahrelangem Boom ist das Wirtschaftswachstum des Landes im dritten Quartal 2015 erstmalig seit der Wirtschaftskrise unter die symbolische Marke von 7 Prozent gefallen. 6,9 Prozent vermeldete die Nationale Statistikbehörde am Montag. Ökonomen gehen davon aus, dass sich das Wachstum weiter verlangsamt.
Allerdings liegt das auch am Strategiewechsel der chinesischen Führung, die den Wachstumsrückgang offenbar in Kauf nimmt und eine „neue Normalität“ankündigt. Aus der billig produzierenden Werkbank der Welt soll nach Willen der Parteiführung eine innovationsgetriebene Wirtschaft werden, von deren Erträgen auch die Einheimischen künftig mehr profitieren sollen. Denn unter vielen Folgen des rasanten Aufstiegs hat die Bevölkerung heute massiv zu leiden: Nicht nur die Hauptstadt Peking versinkt regelmäßig unter einer riesigen Smogwolke, Böden sind ausgelaugt, Gewässer vergiftet, ein Heer von offiziell 274 Millionen Wanderarbeitern schuftet oft unter prekären Bedingungen auf Baustellen und in Restaurants – genug Stoff für viel Unzufriedenheit im bevölkerungsreichsten Land der Welt. Das will die regierende Kommunistische Partei nicht zulassen und hat sich deshalb Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben.
Zusammenarbeit auf Augenhöhe
Das wiederum sind Themen, bei denen der grün-roten Regierungskoalition in Baden-Württemberg das Herz aufgeht. „Klima- und Umweltschutz sind erfolgreiche Wirtschaftsfaktoren“, betonte Kretschmann am Montag bei einem deutsch-chinesischen Fachsymposium in Peking. Wirtschaftswachstum sei auch ohne stetig steigenden Ressourcenverbrauch möglich. Man müsse weg von der „Entweder-Oder-Mentalität“, das beides gleichzeitig ausschließe. „Es ist möglich, zu wachsen und den ökologischen Fußabdruck zu verkleinern“, sagte er. Man dürfe künftigen Generationen „keinen geplünderten Planeten hinterlassen“.
Auf chinesischer Seite gebe es ein großes Interesse für eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, sagte Kretschmann nach einem Gespräch mit dem chinesischen Wissenschaftsminister Wan Gang. Wissenschaft und Ausbildung nehmen bei der Reise insgesamt viel Raum ein, denn auch dort investiert China massiv: Kultusminister Andreas Stoch (SPD), Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) und zahlreiche Hochschulrektoren gehören zur Delegation. Bereits am Sonntag unterzeichneten die Politiker Kooperationsabkommen mit einer dualen Fachschule in Peking, am Montag folgte eine Absichtserklärung zum Aufbau gemeinsamer Automobilstudiengänge in Nürtingen-Geislingen, Mannheim und Peking.
Füttert diese enge Zusammenarbeit nicht einen späteren Konkurrenten heran, der sich ausdrücklich mit besseren Produkten in der Wertschöpfungskette nach oben arbeiten und „Made in China“zum Gütesiegel entwickeln will? Immerhin lebt die Wirtschaft im Südwesten in China vor allem vom Nimbus höchster Qualität und dem Gütesiegel „Made in Germany“. Kretschmann findet das nicht: „Das Wissen in der Welt kann man nicht mehr bunkern“, sagt er. Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD) glaubt, dass sich die deutschen Firmen künftig in der Mehrzahl ebenso gegen Konkurrenz aus China durchsetzen können wie bisher gegen Mitbewerber aus Japan oder Südkorea.