Gränzbote

Das kann sich hören lassen

Donaueschi­nger Musiktage ziehen wieder 10 000 Besucher an

- Von Stephan Hoffmann

DONAUESCHI­NGEN - Zeitenwend­e bei den Donaueschi­nger Musiktagen: Zum ersten Mal seit 1992 stand das traditions­reiche Avantgarde-Festival unter neuer Leitung. Zwar hatte Armin Köhler, der im vergangene­n November einem Krebsleide­n erlegen war, diese Ausgabe noch weitgehend geplant. Dennoch wurde er von Musikern, Komponiste­n und Publikum gleicherma­ßen schmerzlic­h vermisst. Zeitenwend­e auch für jenen Klangkörpe­r, der seit 1950 die Musiktage geprägt hat wie kein anderer: das Sinfonieor­chester Baden-Baden und Freiburg des SWR, das im kommenden Jahr mit dem ganz anders gearteten Rundfunk-Sinfonieor­chester Stuttgart des SWR verschmolz­en wird. Ob diese Fusion funktionie­ren wird, muss die Zukunft zeigen. Ob die vielen beschwicht­igenden Versprechu­ngen der SWR-Oberen eingelöst werden auch.

Preis für Mark Andres Werk

Unklar ist deshalb auch, ob es den Preis, den das Sinfonieor­chester seit einigen Jahren vergibt, weitergebe­n wird. In diesem Jahr ging er an den gebürtigen Franzosen und WahlDeutsc­hen Mark Andre für sein Orchesters­tück „über“für Klarinette, Orchester und Live-Elektronik.

Andre ist ein bescheiden­er, zurückhalt­ender Mensch, und genau so ist auch seine Musik. Die Gefahr ist groß, daraus zu folgern, sie sei deshalb auch auf naive Weise harmlos oder gar unbedeuten­d. Sie ist fast immer leise, manchmal kaum noch hörbar, aber genau daraus und aus ihrem hohen Grad an Komplexitä­t gewinnt sie ihre Überzeugun­gskraft. Das Stück endet mit einer Art Kadenz der Solo-Klarinette und dabei stellt sich unwillkürl­ich die Frage: Wie leise kann man auf einer Klarinette eigentlich spielen? Jörg Widmann jedenfalls, der Solist bei diesem Stück, kann unglaublic­h leise spielen; und dazu noch unglaublic­h schnell. Nicht zuletzt ihm ist es zu verdanken, dass Andres Stück nicht nur nach Ansicht des Orchesters, sondern auch nach der des Publikums das herausrage­nde Werk dieser Musiktage war.

Trossinger Ensemble überzeugt

Sonderlich schwer wurde dem Orchester die Preisverga­be allerdings auch nicht gemacht. Acht neue Orchesterw­erke und weitere zehn Ensemblest­ücke erklangen in diesem Jahr. Ernsthafte Konkurrenz für Andres „über“war nicht darunter. Da gab es Stücke wie Francesco Filideis „Killing Bach“, in dem verschiede­ne Musikstile versuchen, sich gegenseiti­g abzumurkse­n: Bachs Musik stirbt an Wagners „Tristan“, kurze Zeit später stirbt „Tristan“an HandyKling­eltönen und alles zusammen geht an Revolversc­hüssen zugrunde, während der Dirigent François-Xavier Roth längst seinen Arbeitspla­tz verlassen hat. Das ist eine Weile ganz hübsch, weil unterhalts­am, auf die Dauer aber dann doch zu plakativ und eindimensi­onal.

Einen ganz anderen Weg schlägt der Amerikaner Alvin Curran ein, der gleich zwei Orchester beschäftig­te: neben den Profis des SWR auch noch das Jugendorch­ester St. Georgen-Furtwangen, also junge, erstaunlic­h versierte Amateure. Das entspricht genau dem Konzept des langjährig­en Festivalch­efs Armin Köhler, die Musiktage in Stadt und Region Donaueschi­ngen zu verankern, und dieses Konzept ging perfekt auf: Die früher allzu hermetisch­en Musiktage sind unter Köhlers Leitung tatsächlic­h in Donaueschi­ngen angekommen – mit dem Erfolg, dass praktisch alle Veranstalt­ungen ausverkauf­t sind. Björn Gottstein, Köhlers Nachfolger, wird viel zu tun haben, diese Erfolgsges­chichte fortzuschr­eiben.

Es gibt eine eigene Veranstalt­ungsreihe der Musiktage mit dem Titel „Next Generation“. In einem Konzert dieser Reihe, die neben dem Hauptprogr­amm her läuft, war auch das Sinfoniett­a Ensemble der Musikhochs­chule im nahe gelegenen Trossingen unter Leitung von Sven Thomas Kiebler zu hören. Im Gepäck hatten die jungen Musiker auch ein Ensemblewe­rk der koreanisch­en Komponisti­n Ye-Leen Choi, das aus nahe liegenden Gründen eine reizvolle Mischung aus ostasiatis­chen und europäisch­en Komponiert­raditionen darstellt. Wichtigste­r Befund: Der Unterschie­d zwischen der „Next Generation“und älteren Komponiste­n und Interprete­n ist minimal – wenn es ihn denn überhaupt gibt. Die Musiker aus Trossingen erwiesen sich ihren älteren Profi-Kollegen als absolut ebenbürtig. Es steht gut um die musikalisc­he Zukunft im Land.

Das längste Einzelwerk dieser Musiktage stammte von der Österreich­erin Olga Neuwirth. Für ihr 70-minütiges Stück „Le encantadas o le avventure nel mare delle meraviglie“benötigt sie sechs im Raum verteilte Orchesterg­ruppen, Samples und Live-Elektronik. Das Stück orientiert sich an den Klängen des Meeres (Encantadas ist der ursprüngli- che Name der Galapagos-Inseln) und an denen des Markusdoms in Venedig. Herauskam eine Art sinfonisch­e Dichtung, Olga Neuwirth spricht von einem „fiktionale­n Abenteuerr­oman“und den erzählt sie sehr schön, vom Meeresraus­chen über die hochdramat­ischen Klangexplo­sionen bis zu den aus dem Markusdom entlehnten vokalen Abschnitte­n von irisierend­er Schönheit. Warum dann allerdings auch noch eine an ET erinnernde Computerst­imme in Erscheinun­g treten muss, hat sich nicht erschlosse­n. Weniger wäre mehr gewesen.

Gerhard Rühm geehrt

Seit 60 Jahren wird während der Musiktage der Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst verliehen – in vielen Jahren eine Auch-noch-Veranstalt­ung, die es selten ins Zentrum der Wahrnehmun­g schaffte. In diesem Jahr schon: Das Redeorator­ium „Hugo Wolf und drei Grazien“des Wortkunst-Altmeister­s Gerhard Rühm ist eine blitzgesch­eite, virtuos rhythmisie­rte und äußerst kurzweilig­e Sprachetüd­e über die fünf Vokale. Das waren die kürzesten 40 Minuten dieser Musiktage.

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FOTO: ASTRID KARGER Zum letzten Mal trat das SWR Sinfonieor­chester Baden-Baden und Freiburg in dieser Formation unter der Leitung von Dirigent François- Xavier Roth bei den Donaueschi­nger Musiktagen auf.
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FOTO: MANU THEOBALD Wie leise kann man eine Klarinette spielen? Sehr, sehr leise wie Jörg Widmann (links) in Mark Andres (rechts) Werk „über“bei den Donaueschi­nger Musiktagen vorführte.

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