Das kann sich hören lassen
Donaueschinger Musiktage ziehen wieder 10 000 Besucher an
DONAUESCHINGEN - Zeitenwende bei den Donaueschinger Musiktagen: Zum ersten Mal seit 1992 stand das traditionsreiche Avantgarde-Festival unter neuer Leitung. Zwar hatte Armin Köhler, der im vergangenen November einem Krebsleiden erlegen war, diese Ausgabe noch weitgehend geplant. Dennoch wurde er von Musikern, Komponisten und Publikum gleichermaßen schmerzlich vermisst. Zeitenwende auch für jenen Klangkörper, der seit 1950 die Musiktage geprägt hat wie kein anderer: das Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg des SWR, das im kommenden Jahr mit dem ganz anders gearteten Rundfunk-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR verschmolzen wird. Ob diese Fusion funktionieren wird, muss die Zukunft zeigen. Ob die vielen beschwichtigenden Versprechungen der SWR-Oberen eingelöst werden auch.
Preis für Mark Andres Werk
Unklar ist deshalb auch, ob es den Preis, den das Sinfonieorchester seit einigen Jahren vergibt, weitergeben wird. In diesem Jahr ging er an den gebürtigen Franzosen und WahlDeutschen Mark Andre für sein Orchesterstück „über“für Klarinette, Orchester und Live-Elektronik.
Andre ist ein bescheidener, zurückhaltender Mensch, und genau so ist auch seine Musik. Die Gefahr ist groß, daraus zu folgern, sie sei deshalb auch auf naive Weise harmlos oder gar unbedeutend. Sie ist fast immer leise, manchmal kaum noch hörbar, aber genau daraus und aus ihrem hohen Grad an Komplexität gewinnt sie ihre Überzeugungskraft. Das Stück endet mit einer Art Kadenz der Solo-Klarinette und dabei stellt sich unwillkürlich die Frage: Wie leise kann man auf einer Klarinette eigentlich spielen? Jörg Widmann jedenfalls, der Solist bei diesem Stück, kann unglaublich leise spielen; und dazu noch unglaublich schnell. Nicht zuletzt ihm ist es zu verdanken, dass Andres Stück nicht nur nach Ansicht des Orchesters, sondern auch nach der des Publikums das herausragende Werk dieser Musiktage war.
Trossinger Ensemble überzeugt
Sonderlich schwer wurde dem Orchester die Preisvergabe allerdings auch nicht gemacht. Acht neue Orchesterwerke und weitere zehn Ensemblestücke erklangen in diesem Jahr. Ernsthafte Konkurrenz für Andres „über“war nicht darunter. Da gab es Stücke wie Francesco Filideis „Killing Bach“, in dem verschiedene Musikstile versuchen, sich gegenseitig abzumurksen: Bachs Musik stirbt an Wagners „Tristan“, kurze Zeit später stirbt „Tristan“an HandyKlingeltönen und alles zusammen geht an Revolverschüssen zugrunde, während der Dirigent François-Xavier Roth längst seinen Arbeitsplatz verlassen hat. Das ist eine Weile ganz hübsch, weil unterhaltsam, auf die Dauer aber dann doch zu plakativ und eindimensional.
Einen ganz anderen Weg schlägt der Amerikaner Alvin Curran ein, der gleich zwei Orchester beschäftigte: neben den Profis des SWR auch noch das Jugendorchester St. Georgen-Furtwangen, also junge, erstaunlich versierte Amateure. Das entspricht genau dem Konzept des langjährigen Festivalchefs Armin Köhler, die Musiktage in Stadt und Region Donaueschingen zu verankern, und dieses Konzept ging perfekt auf: Die früher allzu hermetischen Musiktage sind unter Köhlers Leitung tatsächlich in Donaueschingen angekommen – mit dem Erfolg, dass praktisch alle Veranstaltungen ausverkauft sind. Björn Gottstein, Köhlers Nachfolger, wird viel zu tun haben, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben.
Es gibt eine eigene Veranstaltungsreihe der Musiktage mit dem Titel „Next Generation“. In einem Konzert dieser Reihe, die neben dem Hauptprogramm her läuft, war auch das Sinfonietta Ensemble der Musikhochschule im nahe gelegenen Trossingen unter Leitung von Sven Thomas Kiebler zu hören. Im Gepäck hatten die jungen Musiker auch ein Ensemblewerk der koreanischen Komponistin Ye-Leen Choi, das aus nahe liegenden Gründen eine reizvolle Mischung aus ostasiatischen und europäischen Komponiertraditionen darstellt. Wichtigster Befund: Der Unterschied zwischen der „Next Generation“und älteren Komponisten und Interpreten ist minimal – wenn es ihn denn überhaupt gibt. Die Musiker aus Trossingen erwiesen sich ihren älteren Profi-Kollegen als absolut ebenbürtig. Es steht gut um die musikalische Zukunft im Land.
Das längste Einzelwerk dieser Musiktage stammte von der Österreicherin Olga Neuwirth. Für ihr 70-minütiges Stück „Le encantadas o le avventure nel mare delle meraviglie“benötigt sie sechs im Raum verteilte Orchestergruppen, Samples und Live-Elektronik. Das Stück orientiert sich an den Klängen des Meeres (Encantadas ist der ursprüngli- che Name der Galapagos-Inseln) und an denen des Markusdoms in Venedig. Herauskam eine Art sinfonische Dichtung, Olga Neuwirth spricht von einem „fiktionalen Abenteuerroman“und den erzählt sie sehr schön, vom Meeresrauschen über die hochdramatischen Klangexplosionen bis zu den aus dem Markusdom entlehnten vokalen Abschnitten von irisierender Schönheit. Warum dann allerdings auch noch eine an ET erinnernde Computerstimme in Erscheinung treten muss, hat sich nicht erschlossen. Weniger wäre mehr gewesen.
Gerhard Rühm geehrt
Seit 60 Jahren wird während der Musiktage der Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst verliehen – in vielen Jahren eine Auch-noch-Veranstaltung, die es selten ins Zentrum der Wahrnehmung schaffte. In diesem Jahr schon: Das Redeoratorium „Hugo Wolf und drei Grazien“des Wortkunst-Altmeisters Gerhard Rühm ist eine blitzgescheite, virtuos rhythmisierte und äußerst kurzweilige Sprachetüde über die fünf Vokale. Das waren die kürzesten 40 Minuten dieser Musiktage.