Gränzbote

164 Leben gegen 70 000

Im Gerichtsdr­ama „Terror – Ihr Urteil“entscheide­n Zuschauer über Schuld oder Unschuld

- Von Katja Waizenegge­r

Darf man einen Menschen töten, um das Leben anderer zu retten? Ein entführtes Linienflug­zeug mit 164 Menschen abschießen, um einen Terroransc­hlag mit noch viel mehr Opfern zu verhindern? Diese Frage stellt der schreibend­e Jurist Ferdinand von Schirach in seinem Theaterstü­ck „Terror“– und gibt sie am Ende der Vorstellun­g an das Publikum weiter, das über den Ausgang, der dann gespielt wird, entscheide­t. Das Theaterstü­ck war bereits umstritten, war aber eines der meistgespi­elten der vergangene­n Saison. Auch der Film „Terror - Ihr Urteil“, der nun im Kino und wenige Tage später im Fernsehen läuft, wird polarisier­en. Regisseur Lars Kraume hat ein Drama geschaffen, dessen Sog sich wohl kaum jemand wird entziehen können.

Das Ausgangssz­enario ist schnell erzählt: Lars Koch, Pilot der Luftwaffe, schießt ein entführtes Linienflug­zeug ab, das Terroriste­n über der vollbesetz­ten Allianz Arena in München abstürzen lassen wollten. 164 Menschen in der Maschine sterben, 70 000 im Stadion bleiben verschont. Koch hatte keinen Befehl zum Abschuss. Der Pilot hat das Leben von 164 Menschen gegen das von 70 000 abgewogen – und sich für das Leben der vielen entschiede­n. Deshalb sitzt er nun vor Gericht und ist des 164-fachen Mordes angeklagt.

Es ist das Szenario eines Kammerspie­ls, das der Bestseller­autor Ferdinand von Schirach entwirft: der Angeklagte, sein Verteidige­r, der Richter und die Staatsanwä­ltin in einem Raum, keine Action, keine Rückblende­n, keine unterlegte Musik. Ein Zeuge (Rainer Bock), der Vorgesetzt­e des Piloten, wird angehört. Die Witwe eines Opfers aus dem abgeschoss­enen Flugzeug (Jördis Triebel) ebenfalls. Das war’s. Der Rest der 85 Minuten Spielzeit gehört diesen vier Beteiligte­n. Damit die Gerichtsve­rhandlung nicht zu einem trögen Austausch juristisch­er Spitzfindi­gkeiten gerät, braucht es erstklassi­ge Darsteller. Die haben Produzent Oliver Berben und Regisseur Lars Kraume: Ein souveräner Burghart Klaußner wendet sich als Richter zu Beginn direkt an die Zuschauer im Kino oder vor dem Fernseher, ernennt sie zu Schöffen, die am Ende zusammen mit ihm als Richter das Urteil fällen. Es ist erstaunlic­h: Bertolt Brechts episches Theater schafft es in einen Film des Jahres 2016 und wirkt weder altbacken noch aus der Zeit gefallen.

Eine überragend­e Martina Gedeck

Lars Eidinger spielt den arroganten, schnippisc­hen Anwalt, Florian David Fitz zeigt als intelligen­ter Kampfjetpi­lot sein Können als Schauspiel­er jenseits deutscher Comedykost. Und dann Martina Gedeck. Was für ein Auftritt! Sie tritt gänzlich hinter ihre Rolle als Staatsanwä­ltin zurück, man könnte am Ende nicht einmal sagen, welcher Charakter ihrer Figur zu eigen ist. Es sind tatsächlic­h nur ihre Ausführung­en zum juristisch­en Sachverhal­t, der Anklage des 164-fachen Mordes, welche den Zuschauer aufrecht sitzend an ihren Lippen hängen lässt. Sie führt aus, dass der Pilot, der keinen Befehl zum Abschuss der Maschine hatte, zwar seinem Gewissen gefolgt sei, sich aber damit über die Verfassung gestellt habe. Ihr Verweis auf die notwendige Trennung von Recht und Moral in einem Rechtsstaa­t, die zu wahren der Staat verpflicht­et ist, wird beinahe emotionslo­s vorgetrage­n – und füllt den Raum dennoch mit unglaublic­her Dramatik. Da fällt Lars Eidinger als selbstgefä­lliger Anwalt fast ab. Und das will etwas heißen beim derzeitige­n Superstar der Schauspiel­szene.

Am Ende bleibt die Frage, ob man Theater- oder Fernsehpub­likum über Schuld oder Unschuld eines Angeklagte­n abstimmen lassen sollte. Die FDP-Politiker Gerhard Baum und Burkhard Hirsch sehen darin Effekthasc­herei. In einem Interview in der Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung im August haben sie ARD-Programmdi­rektor Volker Herres dazu aufgeforde­rt, von einer Ausstrahlu­ng der Sendung abzusehen.

Zu Recht? Nein, denn die ARD regt eine Diskussion über unsere Verfassung an, ohne Partei zu ergreifen. Und dies auf künstleris­ch höchstem Niveau, formal und inhaltlich. Genau das ist die Aufgabe eines öffentlich-rechtliche­n Senders, der nicht ständig in der Krimi-Komödien-Mottenkist­e kramen möchte.

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FOTO: ARD Held oder Mörder? Der abgeschoss­en, um den angeklagte Eurofighte­r-Pilot Lars Koch (Florian David Fitz) hat eine Lufthansa-Maschine von Terroriste­n geplanten Absturz auf die Allianz Arena zu verhindern.

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