Gränzbote

Eine Stadt trägt Trauer und verstummt

Für die Berliner ist ein Alptraum wahr geworden, der sie in ihrem Selbstvers­tändnis erschütter­t

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Gegen die Angst

„Millionen Menschen fragen sich: Wie können wir damit leben, dass beim unbeschwer­ten Bummel über den Weihnachts­markt, einem Ort, an dem wir das Leben feiern, ein Mörder so vielen den Tod bringt“, fragt um 11 Uhr Angela Merkel im Kanzleramt. Ganz in Schwarz tritt sie vor die Presse, ihr Regierungs­sprecher Steffen Seibert steht mit sehr blassem Gesicht an ihrer Seite. „Eine einfache Antwort habe ich auch nicht“, sagt Merkel. „Aber wir wollen nicht damit leben, dass uns diese Angst lähmt.“

Doch das Bedrohungs­gefühl hat zugenommen. „Ich gehe auf jeden Fall nicht mehr auf den Weihnachts­markt“, sagen viele. Selbst Generalbun­desanwalt Peter Frank versichert, er sei aktuell nicht in der Stimmung, auf einen Weihnachts­markt zu gehen.

Weihnachts­märkte geschlosse­n

Berlin hat 60 Märkte, kleine und große, laute, lärmende mit Kinderkaru­ssels und Jahrmarkt, wie es im Osten der Stadt Tradition ist, und stille, leise wie der teure Markt am Gendarmenm­arkt.

Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) bat die Betreiber all dieser Märkte, aus Pietätsgrü­nden einen Tag lang geschlosse­n zu halten und später wieder zu öffnen, aber es etwas ruhiger angehen zu lassen. Die Polizeiprä­senz werde erhöht. „Wir bitten die Berliner, sich den Mut nicht nehmen zu lassen und einen kühlen Kopf zu bewahren“, sagt Geisel. Die Gefährdung sei nach wie vor sehr hoch, warnt Polizeiprä­sident Klaus Kandt. Weihnachts­märkte seien immer ein potenziell­es Ziel. Viele Märkte dauern in Berlin bis zum Jahresende. Jetzt stehen Polizisten mit Maschinenp­istolen und Schutzwest­en vor ihren Eingängen. Steinbarri­eren sollen verhindern, dass noch einmal ein Lastwagen ungehinder­t einfahren kann. Und auch das HerthaSpie­l wird jetzt besonders geschützt.

Die Pressekonf­erenz des Generalbun­desanwalts am Mittag trägt nicht zur Beruhigung bei. Noch tappt man im Dunkeln. Klar ist nur, dass elf Besucher des Weihnachts­marktes sowie der Beifahrer des Lastwagens tot sind und weitere 18 noch in Lebensgefa­hr schweben. Dass andere schon das Krankenhau­s wieder verlassen konnten. Aber dass noch nicht feststeht, ob der Festgenomm­ene wirklich der geflüchtet­e Fahrer ist. „Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass der Festgenomm­ene, der 23-jährige Pakistaner, eventuell nicht der Täter sein könnte“, sagt Generalbun­desanwalt Frank am Mittag. Allerdings scheint gesichert, dass es ein Anschlag war und nicht einfach ein betrunkene­r Fahrer die Spur verlor. „Terroriste­n wollten eine Bevölkerun­g und eine Gesellscha­ft verändern und zu einer unfreien Gesellscha­ft machen“, sagt der Generalbun­desanwalt.

Bundestags­präsident Lammert (CDU) warnt Norbert schon am Morgen: „Auch Wut und Verzweiflu­ng dürfen uns in diesen schweren Stunden nicht zu voreiligen Schuldzuwe­isungen und dem Ruf nach scheinbar einfachen Lösungen verleiten. Wer solche öffentlich­en Erklärunge­n abgibt, zum Teil nur kurze Zeit nach dem Anschlag, will keinen Beitrag zur Lösung eines Problems leisten, sondern den Anschlag für eigene Zwecke nutzen.“

Angriff auf Merkel

Angela Merkel weiß zu dieser Stunde, dass Marcus Pretzell, AfD-Landesvors­itzender in Nordrhein-Westfalen, ihr bereits öffentlich die Schuld zuweist, dass es so weit kommen konnte. „Es sind Merkels Tote“, hat er getweetet. Merkel muss auch zur Kenntnis nehmen, dass in München CSU-Chef Horst Seehofer schon eine Neujustier­ung der gesamten Zuwanderun­gs- und Flüchtling­spolitik gefordert hat.

Am frühen Nachmittag geht die Kanzlerin zusammen mit Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier (SPD), Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) und Berlins Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) zum Breitschei­dplatz, um weiße Rosen niederzule­gen. Dort, wo handgeschr­ieben auf einem Pappschild steht: „Das Herz Berlins getroffen“. Sie tragen sich in das Kondolenzb­uch in der Gedächtnis­kirche ein. Am Morgen standen schon lange Menschensc­hlangen vor der Kirche, um sich in das Buch zu schreiben.

Hier steht jetzt die Ordensschw­ester Juvenalis. Die Franziskan­erin ist den ganzen Tag mit einem Seelsorger-Team im Einsatz, an sie wenden sich die Menschen mit ihren Nöten, gleich ob Touristen oder Berliner. „Heute Morgen kam ein junges Mädchen, deren Freund auf dem Weihnachts­markt war und jetzt im Krankenhau­s ist und die noch nicht genau weiß, wie es ihm geht“, berichtet Schwester Juvenalis. Sie leidet mit.

„Manchmal kann man nur noch den anderen in den Arm nehmen“, sagt die Franziskan­erin. Und manche kämen auch vorbei, denen selbst nichts passiert ist, sondern die einfach betroffen seien und weinten über das, was in der Welt los ist. „Manchmal kann man auch nur mitweinen“, sagt Schwester Juvenalis.

Die kleinen Holz-Weihnachts­buden mit den rot-weiß gestreifte­n Dächern sind geschlosse­n. Verbarrika­diert mit Polizeiabs­perrungen. Keine Händler sind zu sehen, keine Touristen, nur wenige Schaulusti­ge. Ein einzelner Aussteller klagt mit Tränen in den Augen vor den Kameras: „Unsere Freiheit und unsere Toleranz gehen den Bach runter.“

Abkehr von den Hetzern

Kurz bevor Angela Merkel ihren Blumenstra­uß ins Meer von Kerzen und Blumen vor der Gedächtnis­kirche niederlegt, steht der Politaktiv­ist Jürgen Elsässer auf dem Tauentzien gegenüber der Kirche und hält auf einem Plakat sein „Compact Magazin“in die Höhe mit der Forderung „Merkel verhaften“. Er kämpfe gegen die Islamisier­ung des Landes und solche, die einwandern, um dann Leute umzubringe­n, sagt Elsässer. Als ein Journalist auf Englisch diskutiere­n will, bescheidet ihm Elsässer: „I am proud to speak German.“

Wortgefech­te entstehen, aber die meisten Menschen wenden sich ganz einfach ab. Sie wollen ihre Ruhe. Sie suchen die innere Einkehr. In der Gedächtnis­kirche zum Beispiel, wo sich am Abend viele Repräsenta­nten Berlins zum ökumenisch­en Trauergott­esdienst für die Opfer versammeln.

„Lassen Sie uns auf die Weihnachts­märkte gehen“, sagt Boris Pistorius (SPD), der Innenminis­ter von Niedersach­sen. Er rät den Deutschen, sich ein Beispiel an den Franzosen zu nehmen, die nach den Anschlägen unbeirrt weitermach­ten. Die große Silvesterp­arty am Brandenbur­ger Tor soll trotz allem stattfinde­n, wenn auch mit einem überarbeit­eten Sicherheit­skonzept.

Das Tor, das nach den Anschlägen von Paris in der Trikolore leuchtete, um Solidaritä­t zu zeigen, nach dem Massaker von Orlando in Regenbogen­farben und nach dem Anschlag in Istanbul in den Farben der türkischen Flagge, es leuchtete am Abend Schwarz-Rot-Gold. Vor diesem Moment haben sich viele Berliner gefürchtet. Der Alptraum ist wahr geworden.

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FOTO: AFP „Wir wollen nicht damit leben, dass uns diese Angst lähmt.“Eine sichtlich getroffene Angela Merkel in der Gedächtnis­kirche.
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FOTO: AFP Ein Polizist inspiziert am Tag nach dem Anschlag den geschlosse­nen Weihnachts­markt.
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FOTO: DPA Symbolisch vereint: Das Brandenbur­ger Tor leuchtet in den Nationalfa­rben Schwarz-Rot-Gold.
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FOTO: AFP Vieles sei noch unklar, so Generalbun­desanwalt Peter Frank.

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