Gränzbote

Durch Facebook und Twitter (zu) nah dran

Während die Polizei Netzwerke zur seriösen Informatio­n nutzt, werden die digitalen Instrument­e auch missbrauch­t

- Von Yannick Dillinger

RAVENSBURG - Ein Lkw rast am Montagaben­d in Berlin in einen Weihnachts­markt. Menschen sterben. Binnen Sekunden wird das Geschehen in sozialen Netzwerken live übertragen und diskutiert. Die Stunden danach verdeutlic­hen erneut: Das Internet ist nur so gut oder schlecht, wie es von Menschen genutzt wird. Es hat Freiheiten gebracht. Doch diese Freiheiten gehen einher mit der Verantwort­ung eines jeden Individuum­s. Und ein jeder nimmt sie unterschie­dlich wahr und ernst.

Um 22.10 Uhr bittet die Berliner Polizei via Twitter darum, keine Videos vom Unglücksor­t im Internet zu verbreiten. Zu diesem Zeitpunkt haben Journalist­en und Bürger genau das bereits gemacht: Sie haben verwackelt­e Schnappsch­üsse auf Facebook und Twitter vervielfäl­tigt. Diese zeigen Tote, Schwerstve­rletzte, verzweifel­te Passanten. Die Filmer kommentier­en das Grauen mit belegter Stimme. Zu schlimm scheint das zu sein, was sie sehen – und was sie zeigen. Bei Livevideos ist es nicht möglich, zu anonymisie­ren. Wer durch das Bild läuft oder am Boden liegt, wird im Bild festgehalt­en.

Profession­elle Arbeit der Polizei

Die Polizei nutzt in dieser Nacht ebenfalls soziale Netzwerke – um Gesicherte­s weiterzuge­ben, zu warnen und zu beruhigen. Für ihre seriöse Informatio­nsstrategi­e in den Stunden der Ungewisshe­it erhalten die Beamten Lob von Fans und Followern. Erinnerung­en werden geweckt an die profession­elle Kommunikat­ion der Münchner Polizei im Juli, als ein Einzeltäte­r am Olympia-Einkaufsze­ntrum neun Menschen erschoss und die bayerische Landeshaup­tstadt stundenlan­g einen konzertier­ten Terrorangr­iff befürchtet­e. In Berlin bleibt die Massenpani­k aus – weil Behörden und Bürger vor Ort besonnen reagieren.

Von einem Anschlag ist auf den offizielle­n Profilen der Berliner Polizei erst am frühen Dienstagmo­rgen zu lesen. Auf Facebook und Twitter geben Hunderte schon Stunden zuvor an, mehr zu wissen. Ein lange geplanter Terrorakt sei es gewesen. Verübt von einem Tschetsche­nen. Nein, von einem Afghanen. Ach, von einem Pakistani? Okay, in jedem Fall war es ein Flüchtling. „Danke, Merkel!“Ob jedoch tatsächlic­h ein Flüchtling den Lkw gelenkt hat, ist auch am Dienstagab­end noch unklar.

Facebook aktiviert seinen Safety Check. Menschen, die sich in Berlin aufhalten, können sich mit einem Klick als „in Sicherheit“markieren. Das Instrument nutzen Tausende – wie schon beim Erdbeben in Italien oder den Anschlägen in Paris. Menschen lesen erleichter­t, dass es Freunden und Verwandten gut geht. Die Berliner Polizei richtet eine Notrufnumm­er ein – der Service-Tweet erreicht zahlreiche Besorgte, die nun wissen, an wen sie sich mit ihren Fragen wenden können.

Spekulatio­n und Pöbelei

Der eine oder andere AfD-Politiker sieht derweil die Stunde gekommen, um die Opfer des Anschlags (der zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht als ein solcher bestätigt ist) für seine Zwecke zu instrument­alisieren. Das Dahingetwi­tterte teilen Tausende. Mit Verweis auf Meinungsfr­eiheit wird spekuliert und gepöbelt, Freiheit für politische­s Agendasett­ing missbrauch­t. In Berliner Krankenhäu­sern kämpfen in diesen Stunden Menschen um ihr Leben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany