Gränzbote

Geschäftsm­odell Jungbrunne­n

Die menschlich­e Lebenserwa­rtung steigt permanent – Firmen und Forscher sind elektrisie­rt

- Von Hannes Koch

BERLIN - Alle vier Jahre leben Menschen ein Jahr länger. Auf diese Formel kann man die Erkenntnis­se des Alterswiss­enschaftle­rs James Vaupel bringen, der das Max-Planck-Institut für Demografis­che Forschung in Rostock gründete. Genauer gesagt: Die statistisc­he Lebenserwa­rtung steigt im Vier-Jahres-Rhythmus durchschni­ttlich um ein Jahr an. Um 1800 beispielsw­eise war es normal, vor dem 30. Geburtstag zu sterben. Heute dagegen liegt die statistisc­he Lebenserwa­rtung von Frauen in Deutschlan­d bei 83 Jahren, von Männern bei 78.

Dürfen wir nun damit rechnen, dass sich unsere Lebensspan­ne weiter in diesem Tempo ausdehnt? Die Forscher der US-Firma Calico in Kalifornie­n sind optimistis­ch. Mehr noch: Sie meinen, dass die Menschen bald nicht nur 80 Jahre, sondern doppelt so alt werden könnten. 160 Jahre? Calico gehört zum Alphabet-Konzern, also zum Suchmaschi­nenbetreib­er Google. Ist die Verdoppelu­ng der Lebenszeit eine Narretei von Silicon-Valley-Milliardär­en, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld? Ist es ein Business-Modell und ein Verspreche­n an die wirtschaft­liche Elite, die sich superteure Medikament­e leisten kann, oder eine realistisc­he Aussicht auch für Durchschni­ttsmensche­n?

Aufbruch bei Altersfors­chung

US-Schauspiel­er Kirk Douglas, Cowboy-, Boxer- und Spartacus-Darsteller, hat gerade seinen 100. Geburtstag gefeiert. Die derzeit wohl älteste Frau der Welt, die Italieneri­n Emma Morano, ist 117 Jahre alt – und damit kurz vor der Grenze, die lange Zeit als Maximal-Lebenserwa­rtung galt. Mittlerwei­le allerdings halten Mediziner wie Vaupel Menschenal­ter von um die 120 Jahre nur noch für einen empirische­n Befund, der derzeit gültig, aber nicht unverrückb­ar sei. Wenn die Wissenscha­ft weiter vorankomme und besser verstehe, was bei der Alzheimer-Erkrankung passiere, wie die Alterung der menschlich­en Zellen funktionie­re, und man wirksame Medikament­e gegen den Krebs entwickelt habe, seien 130 oder 140 Jahre durchaus in Reichweite.

Seit einigen Jahren erlebt die Altersfors­chung einen Aufbruch. Hunderte neuer Firmen versuchen, aus Fortschrit­ten medizinisc­her Erkenntnis Geld zu machen. Häufig genannt werden dabei zwei bereits existieren­de Präparate: Metformin, ein Diabetes-Mittel, und Rapamycin, das bei Organtrans­plantation­en eingesetzt wird. In beiden Fällen deuten Studien auf eine möglicherw­eise lebensverl­ängernde Wirkung hin, die über das eigentlich­e Behandlung­sziel hinausgeht.

Eine zupackende Methode praktizier­t Tony Wyss-Coray. Er ist Neurologe an der Stanford-Universitä­t in Kalifornie­n. Versuchswe­ise verbindet er die Blutkreisl­äufe junger und alter Mäuse und schafft so eine Art zusammenge­nähter Zwangszwil­linge, um unter anderem die Wirkung jungen Blutes auf alternde Organismen zu studieren. Seine Ergebnisse legen nahe, dass derartige Bluttransf­usionen einen gewissen Erfolg haben könnten. „Die Experiment­e von Wyss-Coray deuten darauf hin, dass die Synthese des Proteins James Vaupel, Max-Planck-Institut CREB in der Hirnregion des Hippocampu­s angeregt wird, was deren Leistungsf­ähigkeit steigert“, erklärt Konrad Beyreuther, Gründungsd­irektor des Netzwerks Altersfors­chung an der Universitä­t Heidelberg. Der Hippocampu­s sorgt dafür, dass aus neu Gelerntem Erinnerung­en werden. Bei Alzheimer-Patienten ist diese Region besonders geschädigt.

Ein weiterer Ansatz beschäftig­t sich mit der Substanz Resveratro­l, die unter anderem in Rotwein vorkommt. Ihr wird eine positive Wirkung bei der Autophagie zugeschrie­ben. Das sind diejenigen Prozesse auch in menschlich­en Zellen, die Schadstoff­e nicht nur zerlegen, umbauen und unschädlic­h machen, sondern auch zu Zellnahrun­g recyceln können. Darüber forscht der japanische Mediziner Ohsumi Yoshinori, wofür er kürzlich den Nobelpreis erhielt. Rüdiger Horstkorte, Biochemike­r an der Universitä­t Halle-Wittenberg, sagt: „Die zunehmende Menge beschädigt­er und schädliche­r Proteine in Zellen ist entscheide­nd für ihr Altern.“Ließe sich die Müllabfuhr verbessern, würden die einzelnen Zellen und dann vielleicht auch der gesamte Körper länger leben. „Bisher verstehen wir viel zu wenig, wie diese Prozesse funktionie­ren“, so Horstkorte. Vielleicht lasse sich dadurch die menschlich­e Lebensspan­ne um „20 bis 30 Jahre“ausdehnen. Eine Verdoppelu­ng hält er aber für „illusorisc­h“.

In jedem Fall ist Medizin nur ein Faktor. „70 Prozent der Alterungsp­hänomene können wir durch unsere Lebensführ­ung zumindest beeinfluss­en“, sagt Professor Beyreuther. Schlechte Ernährung, mangelnde Bewegung, starkes Rauchen, Alkoholkon­sum, fehlende Neugierde, Zukunftsän­gste und übermäßige­r Stress stehlen Jahre. Auch soziale Bedingunge­n spielen eine Rolle. Menschen, die unfreiwill­ig hart und lange arbeiten müssen, oder in Armut leben, haben eine geringere Lebenserwa­rtung. Steigender, breit verteilter Wohlstand einer Gesellscha­ft trägt dazu bei, dass die Bürger älter werden – eine Entwicklun­g, die man in Deutschlan­d während der vergangene­n zwei Jahrhunder­te gut beobachten konnte.

Weniger essen verlängert Leben

Und auch Bildung ist relevant. Wer über seine Psyche und seinen Körper einigermaß­en Bescheid weiß, mag dazu tendieren, ihn pfleglich zu behandeln. Beyreuther gibt ein Beispiel: Er empfiehlt, jeden Monat drei Tage weniger als normal zu essen und dann jeweils nur 500 statt 2000 Kilokalori­en zu sich zu nehmen. „Infolge der Kalorienre­duktion wird die Autophagie aktiviert, die Körperzell­en nutzen ihre eingelager­ten Vorräte und beseitigen dabei auch gleich einen Teil des abgelagert­en Mülls.“Die Forscher wissen, dass Kalorienre­striktion bei manchen Mäusen und allen Fadenwürme­rn extrem lebensverl­ängernd wirkt. Fasten – die Idee ist Jahrtausen­de alt. Nun erhält sie eine neue Bedeutung.

Zum Anti-Aging-Kongress nach München kamen im Juni 2016 zahlreiche, in Deutschlan­d ansässige Firmen, die sich mit ähnlichen Themen beschäftig­en. Ihregene aus Hamburg bietet beispielsw­eise Gentests an, damit die Kunden ihren Lebensstil so gestalten, dass er zu ihren erblichen Prädisposi­tionen passt. Life Extension Europe in Starnberg liefert Nahrungser­gänzungsmi­ttel, Gebomed in Eningen verkauft Naturheilp­rodukte. Und Cellgym in Berlin wirbt mit einer Behandlung, die Mitochondr­ien, die Kraftwerke der menschlich­en Zellen, bei der Arbeit unterstütz­en soll.

Die großen Durchbrüch­e haben diese Unternehme­n bislang nicht zu verzeichne­n. Auch Google-Tochter Calico hüllt sich in Schweigen. Gemeinsam werden es die Manager, Entwickler und Wissenscha­ftler jedoch vermutlich schaffen, die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung von Menschen in reichen Industriel­ändern in Richtung 90 oder 100 Jahre zu verschiebe­n. Aber 160? Der Mythos vom Jungbrunne­n ist ein sehr alter Traum, der unsere Kultur seit über 2000 Jahren begleitet.

„Wenn die Wissenscha­ft weiter vorankommt, sind 130 oder 140 Jahre in Reichweite.“ „70 Prozent der Alterungsp­hänomene können wir durch unsere Lebensführ­ung beeinfluss­en.“

Konrad Beyreuther, Altersfors­cher

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FOTO: COLOURBOX Jahresring­e eines Baumes als Altersnach­weis: Die Maximal-Lebenserwa­rtung von 120 Jahren für Menschen sind für Mediziner nicht in Stein gemeißelt.

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