„Man hat mehr Zeit, um im Wartezimmer zu sitzen“
Warum Menschen häufiger zum Arzt gehen: Der langjährige Psychiater Frieder Böhme kennt Gründe
Volle Wartezimmer, Klagen über zu wenige Ärzte: Liegt es wirklich am Ärztemangel oder gehen wir Deutschen schlichtweg zu oft zum Arzt? Redakteurin Sabine Krauss hat sich darüber mit dem langjährigen Tuttlinger Psychiater Frieder Böhme unterhalten.
Herr Böhme, wer Schnupfen hat, geht zum Hausarzt – wer Rückschmerzen verspürt, lässt sich beim Orthopäden ein Rezept für den Physiotherapeuten ausstellen. Sind die Menschen schlichtweg zu wehleidig geworden?
Ich denke, wehleidig trifft es nicht ganz. Vielmehr liegt es mit an einer veränderten Wahrnehmung des Schmerzes. Lange Zeit, bis ins 17. Jahrhundert, wurde Körperschmerz überhaupt nicht erörtert. Eher vorhanden war der Seelenschmerz, doch für den Körperschmerz war kein Horizont vorhanden. Zwar hat der Betroffene den Schmerz natürlich wahrgenommen, doch man hat mit ihm gelebt, ihn hingenommen. Von Jahrhundert zu Jahrhundert wurde dann mehr über Schmerz geredet.
Und nun sind Schmerzen in unserer Gesellschaft omnipräsent?
Vor allem in den vergangenen Jahrzehnten wurde dem Schmerz eine immer höhere Bedeutung beigemessen. So gibt es heute bereits die Idee der „schmerzfreien Klinik“, selbst Geburten sollen möglichst schmerzfrei sein. Diese Entwicklung liegt mit daran, dass wir inzwischen sehr günstige Lebensumstände haben und nicht jeden Tag in Sorge aufwachen.
Und somit haben wir Zeit, um uns unseren Schmerzen hinzugeben…
Sicher spielt es auch eine Rolle, dass viele Menschen mehr freie Zeit haben, zum Beispiel auch ins Wartezimmer zu sitzen. Entscheidender meines Erachtens für den Arztbesuch ist aber die innere Spannung und Sorge, etwas zu versäumen. Oft heißt es auch in der Familie: Geh lieber zum Arzt...
Aber nicht nur Patienten mit Schmerzen füllen die Wartezimmer – häufig sind es ja reine Kontrolluntersuchungen…
Das ist der zweite Aspekt, der eine große Rolle spielt: das Thema Prävention und Früherkennung. Heute haben wir im medizinischen Bereich viele technische Möglichkeiten und auch das Wissen, dass die Möglichkeit zu einer „Reparatur” vorhanden ist. Das führt dazu, dass es viel Vorsorge gibt und auch, dass Symptome jeglicher Art ernst genommen werden. Und vom Arzt natürlich auch ernst genommen werden müssen – da es ja immer auch der Ernstfall sein könnte. Eine dritte Ebene, die mir zu diesem Thema einfällt, ist, die Stellung des Lebens: Die Säkularisierung brachte mit sich, dass das Leben als einziges und höchstes Gut angesehen wird. Und der Arzt hat die Rolle desjenigen, der für die Gesundheit, also für das Leben zuständig ist.
Gesundheit in Gefahr
Volle Wartezimmer
Ist diese übertrieben Entwicklung oder angemessen?
Der Fortschritt in der Medizin hat sicherlich positive Seiten: Wir leben länger und wir leben meist gesünder. Die genannten Faktoren und das veränderte Bewusstsein führt aber auch mit zu dem, was wir heute als Ärztemangel bezeichnen. Hierzu kann ich nur anfügen, dass sich in meiner 40-jährigen Berufszeit die Zahl der Ärzte in Deutschland insgesamt verdoppelt hat. Sagen wir es so: Das Rückenweh eines Menschen in der Dritten Welt hat keine so große Bedeutung wie das gleiche Leiden in unserer Gesellschaft.