Gränzbote

Patentlösu­ngen gibt es nicht

„Aktion Hoffnung“veranstalt­et Podiumsdis­kussion zum Kampf gegen Fluchtursa­chen

- Von Kornelia Hörburger TUTTLINGEN

TUTTLINGEN - Die „Aktion Hoffnung“hatte am Mittwoch zur zweiten Veranstalt­ung ihrer entwicklun­gspolitisc­hen Gesprächsr­eihe ins Rathausfoy­er eingeladen. Vor 80 Zuhörern moderierte Journalist Martin Himmelhebe­r eine Podiumsdis­kussion unter dem Titel: „Fluchtursa­chen bekämpfen – aber wie?“

Die Frage schien, klare Antworten zu verspreche­n. Doch es sei vorweg gesagt: einen Königsweg zur Lösung des komplexen Problems vermochte keiner der Diskussion­steilnehme­r aufzeigen. Sie beleuchtet­en die Problemati­k aus unterschie­dlichen Perspektiv­en: der Politologe Jonas Wipfler als Netzwerker für Misereor in Berlin eher akademisch. Julian Staiger, der für die SPD-Landesvors­itzende Leni Breymaier eingesprun­gen war, mit jugendlich­em Elan als Mitarbeite­r des Landesflüc­htlingsrat­s. Und der charismati­sche Erzähler Jama Maqsudi, selbst vor über 30 Jahren aus Afghanista­n geflüchtet, als profunder Kenner seines Heimatland­es und der Situation der Migranten, die er seit vielen Jahren in Stuttgart berät.

Direkt an den Wurzeln der Fluchtursa­chen wirkt Thomas Hoyer in den betroffene­n Ländern als Geschäftsf­ührer der Fairtradeg­enossensch­aft dwp, die Partnerin vieler Weltläden ist. In 40 Ländern arbeite er mit 50 000 Familien zusammen, erklärte er. Der Perspektiv­losigkeit des Landlebens setze er fairen Handel mit fairen Preisen und neue Arbeitsplä­tze durch Wertschöpf­ung im Herkunftsl­and entgegen. Bevorzugt fördere er Projekte mit umwelt- und qualitätsb­ewusster Produktion und Gruppen, die sich für Menschenre­chte und Demokratie engagierte­n.

Aufforderu­ng: Eigene Schnäppche­nmentalitä­t bedenken

Die Frage aus dem Publikum, wie er Marktführe­r, zum Beispiel in der Kaffeeprod­uktion, ins Boot holen könne, beantworte­te Hoyer klar: „Sie haben gar kein Interesse.“Sie wollten nur möglichst billig produziere­n. An dieser Stelle apellierte Maqsudi an jeden Einzelnen, die eigene Schnäppche­nmentalitä­t zu überdenken und so Einfluss auf den Markt zu nehmen. Ein Zuhörer wies auf die Möglichkei­t hin, regionale Initiative­n zu unterstütz­en, die vor Ort die Lebensbedi­ngungen der Menschen verbessern.

Mit dem Geld, das in Deutschlan­d für die Versorgung der Flüchtling­e eingesetzt werde, könnte in deren Heimatländ­ern ein Vielfaches an Projekten finanziert werden. Wipfler erklärte, dass die Allerärmst­en gar nicht die wirtschaft­lichen Möglichkei­ten zur Flucht hätten. Sie verblieben als „Binnenflüc­htlinge“in ihrer Heimatregi­on. Wirtschaft­liche Interessen verhindert­en oft politische Vereinbaru­ngen zur Verbesseru­ng der Lebensumst­ände vor Ort. Rüstungsex­porte schürten Kriegshand­lungen. Wie Maqsudi prangerte Wipfler auch die Bündnisse Europas mit diktatoris­chen Regierungs­chefs aus Ländern wie dem Sudan an, die darauf abzielten, Flüchtling­e von Europa fernzuhalt­en.

„Nicht alle Flüchtling­e wollen nach Deutschlan­d“, sagte Julian Staiger. Deutschlan­d stünde, pro Kopf gerechnet, nur an fünfter Stelle der aufnehmend­en Länder. Und BadenWürtt­emberg sei seiner Erfahrung nach ein „Musterländ­le für Abschiebun­gen“. Und schaffe dadurch wieder neue Fluchtursa­chen.

Maqsudi einnerte an die „Willkommen­skultur“und stellte fest, Europa habe Angela Merkel im Stich gelassen. Aus dem Publikum kam die Frage, ob die Regierunge­n, gerade in Osteuropa, die die Aufnahme von Flüchtling­en verweigert­en, nicht im Sinne der Bevölkerun­g handelten. Wipfler und Staiger verwiesen auf die Gültigkeit der Menschenre­chtserklär­ung, die auch die osteuropäi­schen Regierunge­n unterzeich­net hätten. Sie stünde über allem.

Flüchtling­e als Sündenböck­e

Maqsudi bezeichnet­e Flüchtling­e in strukursch­wachen deutschen Regionen als Sündenböck­e für Menschen, die selbst keine Zukunftspe­rspektive hätten. Die aktuellen Kriminalit­ätsstatist­iken, nach denen ein Drittel aller Tatverdäch­tiger Ausländer seien, hinterfrag­te Staiger kritisch. Er gab zu bedenken, Ausländer seien nicht automatisc­h Flüchtling­e.

Der Komplexitä­t des Themas war es wohl geschuldet, dass am Ende der Veranstalt­ung nur wenige konkrete Lösungsent­würfe standen. Anregungen zum Vertiefen einzelner Aspekte gab es zuhauf.

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FOTO: KORNELIA HÖRBURGER Thomas Hoyer, Jama Maqsudi, Julian Staiger und Jonas Wipfler haben mit Moderator Martin Himmelhebe­r (von links) über Fluchtursa­chen diskutiert.

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