Gränzbote

„Impfpflich­t ist politisch nicht durchsetzb­ar“

Professor Thomas Mertens von der Universitä­t Ulm zu Infektions­krankheite­n durch Viren

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ULM - Der Ulmer Professor Thomas Mertens, Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion (STIKO) in Deutschlan­d, geht davon aus, dass hierzuland­e einige Tausend Menschen pro Jahr an einer Grippeinfe­ktion sterben – sehr viel mehr als die offiziell registrier­ten. Dass Impfen in Deutschlan­d zur Pflicht wird, erwartet der Arzt und Virologe nicht. Eine Impfpflich­t würde „alle Impfgegner zu Märtyrern machen“, sagte er im Gespräch mit Claudia Kling.

Herr Professor Mertens, wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Viren beschreibe­n?

Viren sind ein sehr interessan­tes Arbeitsgeb­iet, weil sie relativ einfache Strukturen haben und man an ihnen wesentlich­e grundlegen­de Mechanisme­n untersuche­n kann, die an komplexen Lebewesen schwerer zu untersuche­n wären. Viren sind aber natürlich auch Krankheits­erreger – vom Schnupfen bis zur Ebola-Epidemie – und daher von größter medizinisc­her Bedeutung.

Haben Viren auch Vorteile für den Menschen? Oder anders gefragt: Gibt es auch etwas Gutes, was man über sie sagen könnte?

Es gibt ernst zu nehmende Wissenscha­ftler, die davon ausgehen, dass die Entwicklun­g des Menschen und der Arten, durchaus von Viren beeinfluss­t wurde. Manche Viren haben die Möglichkei­t, genetische­s Material von einer Stelle zu einer anderen zu transporti­eren, bei den Retroviren ist dies beispielsw­eise der Fall. Insofern ist es absolut möglich, dass Viren in der Evolution eine positive Rolle gespielt haben.

Viren sind aufgrund der Globalisie­rung ja sehr reiselusti­g geworden. Führt das zu neuen Gefahren für uns?

Natürlich hat die Globalisie­rung die Folge, dass sich die Ausbreitun­g und Häufigkeit von Viren verändern. Nehmen Sie das SARS-Virus, das in China von Schleichka­tzen auf den Menschen übertragen wurde und innerhalb weniger Wochen zu einer weltweiten Epidemie geführt hat. Das wäre in der Zeit, als man mit Pferd und Wagen oder lange mit Schiffen unterwegs war, nicht möglich gewesen.

Hier im Südwesten von BadenWürtt­emberg beschäftig­t uns auch die Vogelgripp­e. Wie riskant ist dieses Virus für uns?

Durch das aktuelle Vogelgripp­evirus hat sich vor allem die Situation für die Geflügelzu­chtbetrieb­e verändert. Sie wurden durch die Stallpflic­ht gezwungen, ihre Tiere so zu halten, dass sie nicht mit dem Kot vorbeiflie­gender Zugvögel in Berührung kommen konnten. Denn wenn ein Influenza-Virus in einen Zuchtbetri­eb eindringt, müssen mitunter Tausende Tiere getötet werden, das gab es ja bereits mehrfach.

Und wie hoch ist das Risiko, dass das Vogelgripp­evirus, wie in Asien bereits geschehen, auf den Menschen überspring­t?

Diese Fälle in Asien resultiert­en mit Sicherheit aus dem sehr engen Zusammenle­ben von Vögeln und Menschen. Dann kann es zu Infektione­n kommen. Aber es gibt auch die Möglichkei­t, dass sich Viren verändern – und zwar so, dass sie sowohl vom Tier auf den Menschen als auch von Mensch zu Mensch übertragen werden können. Eine solche Mutation kann zu einem großen Problem werden, da es gegen diese veränderte­n Viren keine Basisimmun­ität in der Bevölkerun­g gibt. 1918 beim Ausbruch der Spanischen Grippe, die mindestens 25 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, war das der Fall.

Die Sterblichk­eitsrate ist bei Viruserkra­nkungen sehr unterschie­dlich. Den Infizierte­n zu töten kann doch aber nicht im Interesse des Virus sein?

Ist es auch nicht. Die meisten Viren, beispielsw­eise die Herpesvire­n, bringen uns nicht um, sondern leben in Koexistenz mit uns. Das Virus will sich eigentlich nur vermehren und übertragen werden. Und je länger ein Virus in seiner Wirtspopul­ation zu Hause ist, umso weniger macht es krank. Es könnte sein, dass HIV die Menschen in ein paar Hunderttau­send Jahren auch nicht mehr krank macht – so wie es seiner ursprüngli­chen Affenpopul­ation nicht mehr schadet. Das Phänomen, dass ein Virus tötet, ist sozusagen die Folge mangelnder Anpassung.

Allein durch das Grippeviru­s sind in diesem Jahr Hunderte Menschen gestorben …

Wahrschein­lich sind noch viel mehr Menschen an der Grippe gestorben, die wurden aber nicht registrier­t, weil sie vielleicht ohnehin schon alt und gebrechlic­h waren. Man geht von einigen Tausend Influenza-Toten pro Jahr aus – selbst bei Epidemien mit vergleichs­weise harmlosen Influenza-Viren.

Sind die Impfvorsch­riften Deutschlan­d zu lasch? in

Impfen ist zwar die sinnvollst­e medizinisc­he Methode überhaupt, die wir ergreifen können, aber eine Impfpflich­t ist in Deutschlan­d politisch nicht durchsetzb­ar. Sie würde alle Impfgegner zu Märtyrern machen. Selbst eine indirekte Impfpflich­t, wie es sie in den USA gibt, wäre bei uns nicht zu vermitteln. Dort kann Kindern und Jugendlich­en beispielsw­eise die Aufnahme in einem Kindergart­en oder in einer Schule verwehrt werden, wenn sie nicht geimpft sind. Die Politiker in Deutschlan­d werden sich nicht an eine Impfpflich­t wagen – trotz der gelegentli­chen abweichend­en Äußerungen eines Ministers.

Aber müsste man Kinder nicht besser vor ihren Eltern schützen, wenn sie unverbesse­rliche Impfverwei­gerer sind?

Sie müssen bedenken: Es gibt bei jeder medizinisc­hen Maßnahme auch Nebenwirku­ngen. Die sind zwar bei Impfungen extrem selten, dennoch wäre es schwierig, Impfungen gegen den Willen der Eltern durchzuset­zen. Dazu kommt: Krankheite­n wie Polio und Diphtherie treten bei uns nicht mehr auf. Auch das beeinfluss­t das Bewusstsei­n und damit die Akzeptanz von Impfungen. Wenn Kinder plötzlich wieder an Diphtherie sterben würden, wäre die Impfbereit­schaft sehr viel höher. Aber so nehmen Eltern einseitig das Risiko von Nebenwirku­ngen wahr.

Woran liegt es, dass im süddeutsch­en Raum die Impfquote gerade bei Masern im bundesweit­en Vergleich eher niedrig ist?

Das ist ein komplexes Problem. Es hängt auch damit zusammen, dass alle Gesundheit­smaßnahmen im Grunde genommen Ländersach­e sind. Bayern beispielsw­eise hat das Impfen auf die Hausärztes­chaft verlegt und den öffentlich­en Gesundheit­sdienst stark aus diesem Bereich herausgeno­mmen. Und es ist vielleicht auch eine Mentalität­ssache, wie stark sich der Staat in die Gesundheit­svorsorge des jeweiligen Bundesland­es einmischt.

Inzwischen weiß man, dass Viren auch Krebs verursache­n können. Hat dies die Forschung bislang unterschät­zt?

Das bekanntest­e Beispiel für die Entstehung von Krebs durch Viren ist der Gebärmutte­rhalskrebs nach der Infektion mit Papillomvi­ren. Die Weltgesund­heitsorgan­isation geht inzwischen davon aus, dass 20 bis 25 Prozent der menschlich­en Tumore in einem Zusammenha­ng mit Virusinfek­tionen stehen. Und ich bin davon überzeugt, dass wir weitere Erkrankung­en finden werden, bei denen Infektione­n mit Viren eine Rolle spielen.

Werden diese Erkenntnis­se dazu beitragen, Krebserkra­nkungen künftig verhindern zu können?

Bei den Papillomvi­ren, die der deutsche Nobelpreis­träger Harald zur Hausen als Krebsursac­he erkannt hat, könnte das ja bereits funktionie­ren. Es gibt einen Impfstoff, der diese Erkrankung verhindert. Das Problem ist nur, dass er in Deutschlan­d viel zu wenig akzeptiert ist. Die Durchimpfu­ngsrate liegt bei 40 Prozent. In der nächsten Folge der Gesundheit­sserie geht es um Krankenhau­skeime, an denen pro Jahr Tausende Menschen sterben. Weitere Informatio­nen, ein Video und das OnlineDoss­ier finden Sie unter www.schwaebisc­he.de/ leibundsee­le

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FOTO: SIMON HAAS „Das Phänomen, dass ein Virus tötet, ist sozusagen die Folge mangelnder Anpassung“, sagt Professor Thomas Mertens, Ärztlicher Direktor der Abteilung Virologie am Universitä­tsklinikum Ulm. Der Experte für Herpesvire­n ist seit vergangene­r Woche auch...

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