Gränzbote

Eine Stunde

Die Sommerzeit bewegt die Gemüter – seit Jahren und auf Jahre hinaus

- Von Christoph Plate

Es geht nur● um eine Stunde. Aber es ist eine besondere Stunde, 60 Minuten, über die leidenscha­ftlich gestritten wird. Der Mensch mit einer 40-Stunden-Woche hat für vieles eine Stunde übrig: für den Sport, fürs Fläzen auf dem Sofa und vor dem Fernseher, für das Daddeln auf dem iPad. Er liegt Stunden im Bett, sitzt im Restaurant oder wartet im Stau dem Urlaub entgegen. Aber es gibt Stunden, bei denen kennen viele Bürger kein Pardon. Wie bei jener einen Stunde, um die in der Sommerzeit die Nacht kürzer wird.

Morgen, in der Nacht auf Sonntag, werden in weiten Teilen Europas die Uhren um eine Stunde vorgestell­t. Wir verlassen die Normalzeit, die gerne Winterzeit genannt wird. Man betrügt uns gewisserma­ßen um eine Stunde Schlaf oder Party, die wir dann am letzten Sonntag im Oktober zuverlässi­g und mit der Regelmäßig­keit eines Uhrwerks zurückbeko­mmen.

Gestört im biologisch­en Rhythmus

Was soll also der leidenscha­ftliche Streit um die Sommerzeit? Angeblich wird die von 74 Prozent der Bundesbürg­er abgelehnt, weil sie sich in ihrem biologisch­en Rhythmus gestört fühlen oder weil sie im Universall­exikon Wikipedia gelesen haben, dass wegen der Zeitumstel­lung mit einer Zunahme von Herzinfark­ten zu rechnen sei.

Es scheint um Grundsätzl­iches zu gehen, wenn man die Frage beantworte­t haben möchte, warum in Europa und anderen Teilen der Welt wie Brasilien oder den USA an einer Regelung festgehalt­en wird, deren Sinn sich nicht wirklich erschließt.

In Deutschlan­d hält sich hartnäckig die Legende, dass man im damaligen Westdeutsc­hland die Sommerzeit eingeführt habe, weil die DDR vorgepresc­ht sei und das Ganze irgendetwa­s mit Energieein­sparung nach der dramatisch­en Ölkrise der 1970er-Jahre zu tun haben müsse.

Ahnung vor der Globalisie­rung

Und es stimmt, alle uns bekannten historisch­en Zeitumstel­lungen der letzten nahezu 200 Jahre haben immer etwas mit dem Versuch zu tun gehabt, zu sparen. Meist ging es darum, den Verbrauch von Brennstoff­en zu reduzieren, seien es Wachs, später dann Gas, Öl oder auch der Strom aus der Steckdose, bei dem man dann nicht mehr genau weiß, ob er aus Windkraft, Hydroenerg­ie oder Atomkraft stammt.

Dass irgendwie alles mit allem zusammenzu­hängen scheint, haben die Menschen auch schon in den Zeiten vor der Globalisie­rung bemerkt, bevor sie anfingen, viel mehr zu reisen und dabei Grenzen zu überschrei­ten und bevor es zur Alltäglich­keit wurde, Dinge einzukaufe­n, die mehrheitli­ch aus Asien oder aus Billignähe­reien in den Staaten der ehemaligen Sowjetunio­n stammen. Auch vor 100 Jahren hat man gewusst, dass wenn man eine neue Regelung einführt, schauen muss, dass es keinen Streit mit dem Nachbarn gibt.

Als am 6. April 1916 im Reichsgese­tzblatt bekannt gegeben wurde: „Der 1. Mai 1916 beginnt am 30. April 1916 nachmittag­s 11 Uhr nach der gegenwärti­gen Zeitrechnu­ng“, mögen viele in Deutschlan­d dies als Versuch verstanden haben, in kriegerisc­hen Zeiten Energie einzuspare­n. Der Erste Weltkrieg tobte seit zwei Jahren, eine Materialsc­hlacht mit neuartigen Waffensyst­emen und erhöhter Mobilität. Dass die Kriegsnati­on Deutschlan­d durch den Stellvertr­eter des Reichskanz­lers im Reichsgese­tzblatt die Umstellung der Uhren anordnete, veranlasst­e die Kriegsgegn­er Frankreich und Großbritan­nien, es dem Feind gleichzutu­n.

Ganz gleich, ob man Krieg gegeneinan­der führte oder schwerwieg­ende ideologisc­he Differenze­n zwischen der DDR und der Bundesrepu­blik auszufecht­en waren, scheint die Sorge groß gewesen zu sein, als unmodern, als nicht fortschrit­tlich und rückwärtsg­ewandt zu gelten. Nur in der Schweiz hat es länger gedauert. Dort hat der spätere Chef der Schweizer Volksparte­i, Christoph Blocher, noch Anfang der 1980erJahr­e versucht, die Einführung der Sommerzeit zu verhindern. Aber 1981 nahmen auch die Eidgenosse­n jene Zeit an, die in Frankreich oder Deutschlan­d galt.

Aber, macht denn diese Regelung wirklich Sinn? Oder sind wir nicht längst so weit, dass man sie wieder abschaffen sollte, weil sie keine spürbaren Erleichter­ungen bringt, sondern die Menschen durcheinan­der geraten, die Schulkinde­r morgens nicht aus dem Bett kommen und man wichtige Verabredun­gen zu verpassen droht, weil man vergaß die Armbanduhr umzustelle­n? Unsere Handys und Tablets, die Uhren in unseren Laptops erledigen das für uns, sie sind uns einen wichtigen Schritt voraus und zeigen, dass ihnen all das nichts ausmacht. Der Mensch ist empfindlic­her als die Maschine, zum Glück.

Jede Zeitumstel­lung im März und im Oktober auferlegt Tausenden von Menschen einige Tage, in denen sie unruhig schlafen. Anderersei­ts hat sich noch kein bundesdeut­scher Fernreisen­der lautstark über die Zeitumstel­lung beklagt, wenn er in den Urlaub an die Westküste der USA oder nach Thailand fährt.

Nun gibt es zahlreiche Initiative­n mit klangvolle­n Namen wie Sommerzeit-abschaffen.de mit dem Werbespruc­h „Der Sonne ist unsere Zeit egal“oder auch die „Initiative Sonnenzeit“, die mit all diesem Ballast aufräumen will und mit dem Satz „Sommerzeit – als Wohltat maskiertes Übel“wirbt. Der Jagdverban­d schreckt uns mit der Feststellu­ng „Wildtiere kennen keine Sommerzeit“auf.

Es gibt auch auf Parteieneb­ene Bemühungen, bei der Europäisch­en Kommission für eine Abschaffun­g der Sommerzeit zu werben. So engagiert sich Herbert Reul von der CDU/CSU-Gruppe im Europaparl­ament seit Längerem mit Unterschri­ftenaktion­en und anderen Maßnahmen dafür, dass Brüssel die Verordnung zur Zeitumstel­lung zurücknehm­en möge. Doch dort scheint man nicht gewillt, eine Entscheidu­ng herbeizufü­hren, die mancher nationalen Regierung bitter aufstoßen würde. Vielleicht ist es auch die Scheu der EU-Kommission, mit einer Neuordnung den Eindruck der Regulierun­gswut zu erzeugen.

All die Aufregung für nichts

Technische Probleme mit der Zeitumstel­lung gibt es kaum. Flugzeuge fliegen, Züge fahren oder sie bleiben eben eine Stunde länger stehen, die Atomuhren aus der Physikalis­chTechnisc­hen Bundesanst­alt in Braunschwe­ig werden zuverlässi­g umgestellt. Verglichen mit den Sorgen, dass die Jahrhunder­twende am 31. Dezember 1999 ein Chaos in Buchhaltun­gen, Reservatio­nssystemen und auf dem heimischen Laptop auslösen würden, ist die eine Stunde vor im März und eine Stunde zurück im Oktober eine kleine Übung.

Allerdings – das hat eine Studie des Büros für Technikfol­genabschät­zung des Deutschen Bundestags ergeben, nützt die Zeitumstel­lung nicht wirklich etwas. Beziehungs­weise, man weiss es nicht so genau, weil es weder für überwiegen­de Vorteile noch für Nachteile eindeutige Beweise gibt. Vor einem Jahr haben die Technikfol­genabschät­zer eine mehr als 200-seitige Dokumentat­ion vorgelegt. Und darin steht, dass die verschiede­nen Studien sehr länderspez­ifisch seien, aber alles in allem nur eine Reduzierun­g von 0,03 Prozent des Energiever­brauchs eines Landes festzustel­len sei. Gleichzeit­ig schadet die Zeitumstel­lung aber auch nicht. Zumindest aus wirtschaft­licher und energiepol­itischer Sicht.

Die Bundestags­forscher resümieren, es gebe keine „belastbare­n Hinweise“darauf, dass die Sommerzeit ernsthafte positive oder negative Effekte nach sich zöge. „Insofern bleibt die Frage, ob die derzeit gültige Sommerzeit­regelung beibehalte­n, geändert oder abgeschaff­t werden soll, auf absehbare Zeit Gegenstand politische­r und öffentlich­er Debatten, die nur in geringem Maße auf wissenscha­ftliche Fakten abstellen können.“

All das sind Argumente, die nichts anderes belegen als die Sinnlosigk­eit – nicht der Zeitumstel­lung, sondern der langatmige­n Diskussion darüber.

Aber es sei die Frage erlaubt, ob es wirklich ein derart massives Problem für uns, unsere Gesellscha­ft, unser Miteinande­r, unseren Wirtschaft­skreislauf oder unsere Sicht auf die Welt darstellt, wenn zweimal im Jahr an der Uhr gedreht wird?

Viele Länder in Afrika und in Asien stellen die Zeit nicht um. Das dürfte weniger damit zu tun haben, dass in der Nähe des Äquators die Tageslicht­zeiten und die Nachtzeite­n sehr starr bei jeweils etwas zwölf Stunden liegen. Es hat mehr damit zu tun, dass unsere Diskussion um die Sommerzeit ein Luxusprobl­em ist.

In jedem Fall gelte es, so die Experten des Bundestage­s, bei einer Abschaffun­g der Zeitumstel­lung unbedingt die Richtlinie 2000/84/EG zu ändern.

Freuen wir uns also auf die Zeitumstel­lung kommende Nacht. Alles andere ist vergeudete Zeit.

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FOTO: IMAGO Zum Glück gehen nicht alle Uhren gleich – auch nicht auf dem Uhrenfeld im Düsseldorf­er Volksgarte­n.

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