Gränzbote

Anfassen erlaubt

Das Staatliche Museum für Ägyptische Kunst möchte auch Blinden einen erlebnisre­ichen Museumsbes­uch ermögliche­n

- Von Fabian Nitschmann

MÜNCHEN (lby) - Sabine Friedrich hat ihre Hände auf ein Tausende Jahre altes Abbild eines Pharaokopf­es gelegt. Ihre Finger erkunden den alten Stein in Sekundensc­hnelle. Dass der Kopf nach Angaben der Umstehende­n schwarz-weiß gesprenkel­t ist, irritiert die 71-Jährige. Braun und einfarbig hatte sie ihn sich vorgestell­t – passend zur glatten Oberfläche. Doch selbst sehen kann sie den Pharao nicht.

Sabine Friedrich ist blind. Der Verlust der Sehkraft begann bei ihr mit vier Jahren. Seit sie 45 ist, sieht sie nichts mehr. Nur zwei Prozent Sehkraft hatte sie die meiste Zeit ihres Lebens – von Farben hat sie daher aber eine Vorstellun­g. Im Staatliche­n Museum für Ägyptische Kunst in München (SMÄK) ist Friedrich Teilnehmer­in eines Projekts, das sie als großes Privileg wahrnimmt: Sie hat die Möglichkei­t, zahlreiche Exponate mit den Händen zu erkunden. Und dieses Privileg nutzt die neugierige Frau gerne. „Lasst mich mal kurz schauen“, sagt Friedrich sofort, sobald sie vor das nächste Ausstellun­gsstück geführt wird. Sie lacht und lässt ihre Hände über eine kniende Pharaonen-Figur gleiten. Quadratisc­he Knie, ausgeprägt­e Muskulatur – Friedrich hat bereits nach wenigen Sekunden Details erfasst, die den umstehende­n Sehenden noch gar nicht aufgefalle­n sind. Erst danach hat Friedrich Lust, sich die fachlichen Erläuterun­gen zu dieser Figur anzuhören.

Gemeinsam mit fünf weiteren Blinden sammelt Friedrich derzeit im Museum sämtliche Eindrücke, die anderen Blinden einen eigenständ­igen und besonderen Museumsbes­uch per Audioguide möglich machen sollen. Dazu gehört auch die genaue Beschreibu­ng der Exponate mit Details, die viele Museumsbes­ucher nie entdecken würden. „Ich habe nie darauf geachtet, dass Horus-Figuren – also Mischwesen aus Falken und Menschen – so aussehen und sich so anfühlen, als würden sie Knickerboc­ker tragen“, sagt Projektlei­terin Mona Horncastle. „Wir bekommen so für blinde Besucher besondere Informatio­nen und Eindrücke, die man nur haben kann, wenn man die Exponate anfasst. Nun können wir aber nicht jeden alles anfassen lassen.“

Für das SMÄK ist das BlindenPro­jekt der nächste Schritt bei der Inklusions­arbeit. Bereits jetzt bekommt das Museum viel Lob für sein Engagement in Sachen Barrierefr­eiheit. „Das SMÄK ist ein herausrage­ndes Beispiel, weil dort für mehrere Gästegrupp­en etwas gemacht wird“, sagt der Vorsitzend­e des Vereins „Tourismus für alle“, Rüdiger Leidner. Leidner ist zudem TourismusB­eauftragte­r des Deutschen Blindenund Sehbehinde­rtenverban­ds. Auch bei einer Zertifizie­rung durch das Projekt „Reisen für alle“sei das SMÄK positiv aufgefalle­n: Nur 2 der bislang 53 untersucht­en Museen bieten Informatio­nen in Blindensch­rift – das SMÄK gehört dazu.

„Wir wollen weiter wissen, was die Betroffene­n bei der Barrierefr­eiheit brauchen. Wir sind interessie­rt, das Angebot weiter auszubauen“, sagt Roxane Bicker, Museumspäd­agogin im SMÄK. Sie begleitet die Blinden durch das Museum und liefert das Expertenwi­ssen zu den Exponaten. Mona Horncastle führt dieses Expertenwi­ssen sowie die Eindrücke der sechs Blinden zusammen, die ersten Skripte werden derzeit geschriebe­n. Ende des Jahres soll dann der fertige Audioguide im Museum angeboten werden können.

Auch für Sehende bereichern­d

Dieser richtet sich dann zwar vornehmlic­h an Blinde, könnte aber auch für Sehende eine Bereicheru­ng sein. Projektlei­terin Horncastle etwa, die zuvor mit Gehörlosen im Museum gearbeitet hat, schaut inzwischen anders auf die Ausstellun­gsstücke. „Ich glaube, dass ich deutlich sensibler und genauer geworden bin. Und das ist nachhaltig für unsere weitere Arbeit hier im Museum.“

Livia Buoni-Hofmann (78), eine der blinden Teilnehmer­innen des Projekts, empfiehlt zudem, Exponate immer von allen Seiten anzuschaue­n. „Hinter den Schenkeln eines Sphinx habe ich beim Befühlen plötzlich etwas Rundliches entdeckt, das wohl nicht zu einem Weibchen gehört.“Seitdem kann sie sich merken: Ein ägyptische­r Sphinx – meist eine Mischung eines Löwen und eines Pharaos – ist immer männlich.

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FOTO: DPA Keine Berührungs­ängste: Die blinde Livia Buoni-Hofmann ertastet eine Sphinxfigu­r im Museum für Ägyptische Kunst in München.

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