Gränzbote

„Ich bin glücklich und stolz, hier zu leben“

Simon Rattle über die Berliner Philharmon­iker und warum er gerne in Deutschlan­d wohnt

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BADEN-BADEN - Noch ein Jahr ist Sir Simon Rattle Chefdirige­nt der Berliner Philharmon­iker, die Osterfests­piele Baden-Baden stehen vor der Tür. Georg Rudiger hat ihn im Festspielh­aus zum Gespräch getroffen – über den Wechsel von Salzburg nach Baden-Baden, seine späte Entdeckung Puccinis, die neue Aufgabe in London und warum Deutschlan­d für ihn ein moralische­r Kompass ist.

Als die Osterfests­piele der Berliner Philharmon­iker im Jahr 2013 in Baden-Baden starteten, hingen in der Stadt Banner mit der Aufschrift: „Willkommen zu Hause, Berliner Philharmon­iker!“Fühlen Sie und das Orchester sich inzwischen zu Hause in Baden-Baden?

Absolut. Es ist gut, manches Mal in den Süden zu kommen. Da erkennt man auch, welch anderes Deutschlan­d hier zu erleben ist. Die Menschen sind freundlich, sie haben Zeit. Jeder fühlt sich hier gleich entspannt. Auch im Festspielh­aus werden wir immer sehr herzlich empfangen. Wir erfüllen Baden-Baden zwei Wochen mit Musik: Das ist ein echtes Vergnügen.

Die Entscheidu­ng, die von Herbert von Karajan im Jahr 1967 gegründete­n, traditions­reichen Osterfests­piele von Salzburg nach BadenBaden zu verlegen, war innerhalb des Orchesters nicht unumstritt­en.

Es ist ein großes Privileg, hier in Baden-Baden zu sein. Wir sind Gäste des Festspielh­auses. Das ist etwas ganz anderes als in Salzburg, wo wir von Ferne aus dafür sorgen mussten, dass die Dinge ins Laufen kommen. Dass wir dort die Opernprodu­ktionen nur zweimal spielen konnten, war eines der größten Probleme. Für ein Orchester wie die Berliner Philharmon­iker, das nur einmal im Jahr eine Oper spielt, ist es natürlich besonders schwierig, dies nur zu Beginn und am Ende eines 14-tägigen Festivals zu tun. Das war schon ziemlich verrückt. Vor der Premiere waren wir alle nervös – und bei der zweiten Aufführung zwei Wochen später hatten wir fast alles wieder vergessen (lacht). Hier in Baden-Baliebt, den haben wir vier Aufführung­en, was natürlich auch wirtschaft­lich viel sinnvoller ist. Salzburg war sehr exklusiv. Hier haben wir mehr Offenheit. Und können mehr und unterschie­dlichere Konzerte spielen – darunter viele Kammerkonz­erte.

Vor zwei Jahren haben Sie in Baden-Baden mit „Manon Lescaut“Ihre erste Puccini-Oper dirigiert. Dieses Jahr ist es mit „Tosca“die zweite. Warum haben Sie Giacomo Puccini so spät für sich entdeckt?

Zum einen war ich zu schüchtern. Ich habe Puccinis Musik immer ge- aber hatte das Gefühl, sie nicht dirigieren zu dürfen. Als ich es dann tat mit „Manon Lescaut“, dachte ich: Was war ich doch für ein Dummkopf, dass ich die letzten 35 Jahre Puccini gemieden hatte! Aber vielleicht hat es auch etwas Gutes, dass ich mich erst so spät mit dem Komponiste­n beschäftig­e. Ich bringe also eine gewisse Unschuld mit, die ich nicht hätte, wenn ich schon viele Jahre mit Puccini als Dirigent vertraut gewesen wäre. Wir haben großartige, neugierige Solisten gefunden, die sich auf die Probenarbe­it freuen, was im heutigen Betrieb nicht selbstvers­tändlich ist. Als ich unserem wunderbare­n Tenor Marcelo Álvarez sagte, dass wir vier Bühnenorch­esterprobe­n haben, konnte er es kaum glauben. Das hat er mit diesem Werk noch nie erlebt. Die meisten aus unserem Orchester spielen „Tosca“zum ersten Mal – und das ist wahrlich kein leichtes Stück.

Im Sommer 2018 werden Sie als Chefdirige­nt der Berliner Philharmon­iker aufhören. Was hat das Orchester von Ihnen gelernt?

Da müssen Sie das Orchester fragen.

Inwiefern hat sich das Orchester verändert?

Ich denke, das Orchester hat jetzt einen weiteren Horizont, eine größere Bandbreite als vorher. Die Musikerinn­en und Musiker haben vieles entdeckt. Und das meiste davon mit großem Vergnügen. Was haben Sie vom Orchester gelernt? Wie viel Zeit haben Sie? (lacht) Da gibt es so vieles. Ich habe eine Menge erfahren dürfen über Tiefe in der Musik und das Atmen im Orchester. Das war und ist wirklich ein Privileg.

Als Sie auf einer Pressekonf­erenz verkündete­n, dass Sie 2018 als Chefdirige­nt, dann im Alter von 63 Jahren, in Berlin aufhören, erwähnten Sie als Liverpoole­r den Beatles-Song „When I’m 64“– insbesonde­re die Zeilen: „Will you still need me, will you still feed me?“Ab kommender Saison wird Sie das London Symphony Orchestra „füttern“, wo Sie als Chefdirige­nt beginnen. Was sind Ihre Pläne mit diesem Orchester?

Das Orchester ist nicht so privilegie­rt wie die Berliner Philharmon­iker. Die Musiker dort haben ein härteres Leben. Das London Symphony Orchestra ist immer neugierig und wartet darauf, was als nächstes kommt. Die Berliner Philharmon­iker denken viel über ihre große Tradition nach. Über die Vergangenh­eit spricht man beim London Symphony gar nicht. Das Orchester hat ein großes Potenzial. Ich freue mich sehr darauf. Es gibt bei mir schon das Gefühl des Nach-Hause-Kommens. Ich kenne viele Orchesterm­itglieder schon sehr lange – mit manchen habe ich bereits zusammen im Jugendorch­ester in England gespielt.

Sie werden allerdings nicht nach London ziehen, sondern mit Ihrer Familie in Berlin wohnen bleiben. Was denken Sie als Engländer über das Deutschlan­d der letzten Jahre?

Es ist der Ort, wo unsere Kinder geboren sind, sie aufwachsen und zur Schule gehen. Ich finde es fasziniere­nd, hier als Immigrant zu leben. Deutschlan­d hat sich sehr verändert in den letzten 15 Jahren. Das war für die deutsche Psyche eine außerorden­tliche Zeit. Wer hätte gedacht, dass Deutschlan­d so eine große Party machen kann wie nach dem Gewinn der Fußballwel­tmeistersc­haft? Im Augenblick scheint Deutschlan­d einer der wenigen Orte zu sein, die als moralische­r Kompass der Welt dienen. Ich bin glücklich und stolz, hier zu leben. Und ich freue mich sehr, dass meine Kinder an einem Ort aufwachsen, wo die Menschen versuchen, die richtigen Dinge zu tun. Aber ich unterstütz­e immer noch den FC Liverpool.

Mit Jürgen Klopp als Trainer.

Exakt. Einer der wenigen Fußballtra­iner, der scheinbar von allen verehrt wird. Er hat dort viel in Bewegung gebracht. Und ist der ungewöhnli­chste Liverpoole­r, den man sich vorstellen kann.

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FOTO: DPA Er ist ein Pultstar ohne Starallüre­n: Sir Simon Rattle, Chefdirige­nt der Berliner Philharmon­iker, der 2017 nach London wechselt.

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