Im Sinne des Erfinders
Vor 200 Jahren hat Karl Drais der Menschheit das Fahrrad geschenkt – Heute gehört ihm wie keinem anderen Verkehrsmittel die Zukunft
Die erste Radtour der Geschichte am 12. Juni 1817 war nach allem, was man weiß, kein großes Spektakel. Dabei hätte die Jungfernfahrt des Freiherrn Karl von Drais mit seiner Laufmaschine wie kaum ein Ereignis das Zeug dazu gehabt. Ein begeistertes Publikum, das entlang der Chaussee zwischen Mannheim und Schwetzingen sich drängte, wäre aus heutiger Sicht das Mindeste gewesen. Schöner noch ein Event für die ganze Familie rund um Start und Ziel am kurfürstlichen Schloss. Denn der geniale Sohn des Oberhofrichters war ja nicht nur auf die bahnbrechende Idee mit dem Zweirad für Erwachsene gekommen. Er hatte nebenbei das Laufrädchen erfunden, das Generationen von Kleinkindern die Stützräder erspart hätte, wäre es der Menschheit nicht erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts wie Schuppen von den Augen gefallen.
Die eigene jahrelange Verblendung beim Blick auf Drais’ wegweisende Erfindung lässt die Ignoranz seiner Zeitgenossen in milderem Licht erscheinen. Schwer begreiflich ist sie dennoch. Allein dass sich im „Mannheimer Intelligenzblatt“, der einzigen Zeitung seiner Heimatstadt, über die erfolgreiche Testfahrt keine Zeile fand. Wochen später hat Drais im „Badwochenblatt“eine Anzeige in eigener Sache geschaltet, wonach er nach glaubhaften Zeugnissen mit der neuesten Gattung der von ihm erfundenen Fahrmaschine ohne Pferd von Mannheim an das Schwetzinger Relaishaus und wieder zurück, also vier Poststunden Wegs, in einer Stunde Zeit gefahren sei und „mehrere Kunstliebhaber“von deren Schnelligkeit überzeugt habe. Große Kunst war das, auch gemessen an den Anforderungen moderner Biker, findet der Technikhistoriker und Drais-Biograf Hans-Erhard Lessing: „Ein Schnitt von 13 km/h ist selbst für ein modernes Hollandrad mit Kugellager und Pneu nicht schlecht.“
Schließlich war alles Wesentliche im Drais’schen Urmodell schon vorhanden. Die zündende Idee, über die er in der Anzeige freimütig Auskunft gab, war „von dem Schlittschuhlaufen genommen und besteht in dem einfachen Gedanken, einen Sitz auf Rädern mit den Füßen vom Boden fortzustoßen“. Worauf es hier wie dort ankommt, und was Kleinkindern intuitiv gelingt, ist die Balance zu halten. Dabei ist das Geniale an Drais’ Erfindung der sogenannte Nachlauf, der das Rad nach jedem Schlenker wieder in Laufrichtung zieht. „Sonst wäre es nicht lenkbar, und nicht lenkbar heißt nicht fahrbar“, sagt Thomas Kosche, der im Technoseum in Mannheim die Große Landesausstellung. „Zwei Räder – 200 Jahre“über den Freiherrn von Drais und die Geschichte des Fahrrades kuratiert hat. Es ist eine sehenswerte, weil ungemein erhellende Ausstellung geworden, die mit den technischen Entwicklungen die großen gesellschaftlichen beleuchtet.
Das Fahrrad war die Antwort auf viele Probleme der Vergangenheit, sagt Kosche, und „unter den heute verbreiteten Verkehrsmitteln ist es das einzige mit uneingeschränkter Zukunftsfähigkeit“. Das Ereignis am 12. Juni 1817 sei deshalb überhaupt nicht hoch genug einzuschätzen: „Die Jungfernfahrt war einer der Augenblicke, in denen Geschichte beginnt.“Nur kam sie 50 Jahre zu früh, und womöglich im falschen Land. Nicht nur weil Baden in der technisch-industriellen Entwicklung Jahrzehnte hinter England, der Schweiz und Teilen Frankreichs hinterherhinkte und weil es hier keinen wirksamen Patentschutz gab. Nach Krieg und Missernten infolge der Klimakatastrophe durch den verheerenden Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora hatten die allermeisten Menschen schlichtweg andere Sorgen. Allein in Adelskreisen konnte man sich so ein teures Gefährt überhaupt leisten, das nach der original Bauanleitung des Erfinders von einem Wagner hergestellt werden musste.
Das Prachtexemplar in der Mannheimer Ausstellung stammt aus dem Hause Fürstenberg, es handelt sich hierbei um die S-Klasse mit höhenverstellbarem Sitz. Und sie ist mit der Lizenzmarke des Freiherrn von Drais versehen. Fürst Karl Egon II. allein besaß mindestens sechs Stück davon. Unlinzensierte Nachbauten verzichteten zumeist auf technische Finessen wie Nachlauf und dosierte Schleifbremse am Hinterrad, was reihenweise zu Stürzen geführt haben soll und Drais unverdientermaßen ein lächerliches Image einbrachte und ziemlich fiese Karikaturen. Dazu Restriktionen wie Fahrverbote auf allen Mannheimer Bürgersteigen. Hier nimmt etwas seinen Anfang, das sich durch die Geschichte zieht, sagt Thomas Kosche: „Wo ein Fahrrad, da ist auch ein Verbot.“
Jedenfalls ist Karl Drais danach rund 50 Jahre in Vergessenheit geraten, und erst als das Tretkurbelvelociped in Mode kam, hat man sich seiner wieder erinnert. Das Tretkurbelvelociped war wie das Hochrad und später das Sicherheitsniederrad und erst recht die optimierten High-EndModelle unserer Tage keine Erfindung, sondern lediglich das Produkt einer Weiterentwicklung. Das Fahrrad hatte Karl Drais erfunden. Mit seiner Laufmaschine.
Umso größer ist die Ehrerbietung, die dem Erfinder nun posthum zuteil wird. Gerade auch vonseiten der Intelligenzblätter, die inzwischen einschlägige Fachjournalisten beschäftigen. Mit Blick auf den Jahrestag beabsichtigt nun einer, im Selbstversuch die original Strecke mit einer original Drais’schen Laufmaschine abzufahren, sagt Peter Roßteutscher von der Geschäftsstelle Radjubiläum der Stadt Mannheim. Leider ist der fragliche Abschnitt „nicht unbedingt das, was man radtouristisch eine schöne Strecke nennen würde“. Wo Drais noch durch Wald und Forst fuhr, erstrecken sich heute Gewerbegebiete und Ausfallstraßen. Ersatzweise kann Roßteutscher immerhin auf den Rheinradweg verweisen. Wie viele Städte, die sich jahrezehntelang dem Auto verschrieben haben, forciert auch Mannheim inzwischen den Wandel hin zu einer fahrradfreundlicheren Stadt. Die Stadt Karlsruhe, Drais Geburtsund Sterbeort, steht im Ranking ganz oben, sie hat die Notwendigkeit als eine der ersten begriffen.
Trotzdem ist in den Köpfen ihrer Bürger noch immer nicht angekommern, wem sie das alles zu verdanken haben, meint Martin Hauge, der im Karlsruher Gewerbehof seinen Laden „Radler Martin“für neue und gebrauchte Fahrräder, Reparaturen und Selbsthilfe betreibt wie auch die Internetseite Danke-Karl-Drais.de. Zwanzig Jahre war er als Fahrradkurier in Berlin unterwegs, was tempomäßig heute noch durchschlägt bei seinen geführten Stadtrundfahrten auf den Spuren des Erfinders. Er hat vierzig Stationen ausgemacht, darunter erfreuliche wie das Schloss, wo der junge Freiherr Karl von Drais als Patensohn des Markgrafen die Taufe empfing. Aber auch das Goldene Kreuz, wo der selbsternannte Bürger Karl Drais während der badischen Revolution „aus politischen Gründen misshandelt“wurde. Schließlich das neue Drais-Denkmal in der Beiertheimer Allee – die alte Büste, die 1893 in Anwesenheit von Tausenden Radfahrern erhüllt worden war, ist später dem Autoverkehr zum Opfer gefallen.
Im Rahmen der Jubiäumsfeierlichkeiten landauf, landab lässt sich die Stadt nun nicht lumpen und lädt an drei Tagen im Mai zum Welttreffen historischer Fahrräder ein. Keine Frage, dass Martin Hauge dabei sein wird mit seiner originalgetreuen Laufmaschine. Mit großem Publikum ist diesmal zu rechnen und im Sinne des Erfinders hoffentlich mit vielen kleinen Laufrädchenfahrern.