Starke Seilschaften
Das Tauziehfest in Pfahlbronn ist kein Kindergeburtstag – Wie in einem archaischen Ritual erproben Männer und Frauen ihre Kräfte
Der Boden sieht aus, als hätte eine Rotte Wildschweine gewütet, zerfurcht und rutschig. Zwölf Frauen warten im Matsch. Sie warten auf das Signal. „Seil auf! Spaaaannen!“, kommandiert der Kampfrichter. Mit elegantem Schwung packen je sechs an beiden Seiten das Tau, das wie eine träge Riesenschlange auf Holzpfählen ruht. „Feeertig!“Mit Wucht stampfen sie auf, rammen ihre Hacken in die Erde, Schlamm spritzt. „Puuull!“Die Damen beginnen, sich gegenseitig schnaubend durch den Dreck zu zerren. Ihre Gesichter sind angespannt, die Körper weit nach hinten gelehnt. Wie ein Mantra wiederholen sie ihren Schlachtruf: „Pull, pull“. Zeitgleich ziehen sie mit aller Kraft am Seil und treten im Gleichschritt zurück, perfekt aufeinander abgestimmt. „Sieht aus wie ein Tausendfüßer“, staunt ein kleiner Junge. Trotz Schneeregen stehen einige Hundert Zuschauer hinter dem Absperrband am Rande von Pfahlbronn und feuern die Teams an. Martin Bildstein sieht aus, als würde er am liebsten selbst mitziehen. „Drückt hinten mehr. Tief bleiben! Mädels, noch ein Meter! Da fehlt nicht mehr viel.“Der Trainer der Pfahlbronner Damenmannschaft hat die Fäuste geballt. „Weiter, halten! Nicht loslassen!“Zwei Minuten können zur Ewigkeit werden, wenn das Hanfseil in den schwieligen Händen brennt und die Innenflächen bereits Blasen schlagen.
Nicht erlaubt sind: Abstützen, Absitzen, Seil unter die Achseln
Tauziehen ist ein Wettkampf mit simplen Regeln. Nicht erlaubt: Abstützen. Absitzen. Das Seil unter die Achseln klemmen. Über Triumph oder Niederlage entscheiden wenige Zentimeter, Sekunden. Wer den Gegner über die Linie bringt, gut vier Meter weit, gewinnt. Früher zogen ganze Stämme und Dorfgemeinschaften am Tau darum, wie die kommende Ernte ausfallen würde. Sie zogen für das Gute und gegen das Böse, ein archaisches Ritual, das bis in die Antike belegt ist. Die Siegerpartei besiegte die Geister in einem zeremoniellen Wettkampf. Im Remstal geht es an diesem Aprilwochenende beim Hobbyturnier um 30 Liter Bier – und im Profi-Wettkampf um das Ansehen eines Traditionssports mit Imageproblem. Tauziehen, das bedeutet für viele reine Gaudi, ein Spiel für Kindergeburtstage und Pfadfinder-Camps. Dass es professionelle Vereine in Deutschland gibt, ist weitgehend unbekannt.
Jedes Jahr organisiert der Verein ein dreitägiges Tauziehfest: die wichtigste Feier im Jahr, die beste Werbung. 7000 Einwohner leben in der Gemeinde Alfdorf im RemsMurr-Kreis, zu der Pfahlbronn gehört. Seine Familie, wie Martin Bildstein die Tauziehfreunde nennt, zählt gut 200 Mitglieder, rund jedes zehnte davon ist aktiver Sportler. Wie viele von ihnen der Sportwart des Württembergischen Rasenkraftsportund Tauzieh-Verbandes selbst geworben hat, weiß er nicht. Am Ende dieses Turniers wird er wieder zwei neue Anwärter für die Jugendmannschaft überzeugt haben.
Bildstein ist – wie er selbst von sich sagt – mit dem Tauziehvirus infiziert und möchte möglichst viele damit anstecken. Mit zwanzig hat er zum ersten Mal gezogen. Dreißig Jahre hat er das Seil danach nicht losgelassen – oder das Seil ihn nicht. Bis in die Bundesliga und in die deutsche Nationalmannschaft hat er es geschafft. Im Vereinsheim zeugen verblasste Fotos an den Wänden von der Vergangenheit. Anfangs beim Maibaumaufstellen begann alles spielerisch, als Kräftemessen für die starken Männer. Bei den Hobbyturnieren zog die Herrenrunde so erfolgreich, dass sie vor genau 30 Jahren entschied, einen Verein zu gründen. Seitdem hängt Bildsteins Leben buchstäblich am Seil. Seine Frau hat er über den Sport kennengelernt. Sein heutiger Schwiegervater war ein ehemaliger Mannschaftskamerad. Bildsteins Tochter Laureen, eine zierliche Rothaarige, hat nicht nur die blauen Augen vom Vater geerbt, sondern entwickelt seit einiger Zeit am Seil ungeahnte Kräfte.
Tauziehen ist knallhart und gnadenlos, sagt Bildstein. Stärke, Kondition, Technik sind entscheidend. Und dass im Team „kein Stinkstiefel“ist. „Beim Fußball ist ein schwächerer Mitspieler zu verschmerzen. Beim Tauziehen nicht.“Darum achten die Pfahlbronner Tauzieher gegenseitig darauf, dass sich keiner am Vorabend im Festzelt ein zweites Weizen gönnt oder nach elf noch auf der Bierbank tanzt.
Am Sonntagmorgen, dem Wettkampftag, drängen sich die Sportler hellwach und nur mit Unterhosen bekleidet im Flur des Vereinsheims. Allmählich trudeln die Gastteams aus Korb und Kaiserberg ein, der Tauziehclub Eiche Affalterried, die Doibacher Löwen. Die Kampfrichter haben hinter ihrem Tisch im Fitnessstudio Platz genommen. Erste Hürde: die Waage. Martin Bildstein als Mitausrichter des Turniers hat den Richtern eingebläut, „scharf zu wiegen“. Ist eine Mannschaft zu schwer, wird sie disqualifiziert. Die acht Herren dürfen zusammen nicht mehr als 640 Kilogramm wiegen, im Schwergewicht sind es 720. Ein Stempel mit der Gewichtsklasse prangt auf ihren blanken Oberschenkeln oder Unterarmen. Die Pfahlbronner bleiben unter der Grenze. Sonst müssten sie nun das Auto vorheizen, drei dicke Jacken anziehen und schwitzen. Die amtierenden deutschen Meisterinnen aus Kaiserberg hecheln über den Sportplatz, um die letzten Gramm zu verlieren. Die Pfahlbronner Damen und Herren stärken sich da schon im Festzelt. Die Mütter einiger Tauzieher haben Auflauf und Nudelsalat gemacht, Kuchen gebacken.
Dann geht es an den Galgen: Acht Meter hoch, selbst zusammengeschweißt aus abgesägten Eisenbahnschienen – die Seilwinde mit schweren Gewichten simuliert den Gegenzug der gegnerischen Mannschaft. Die Frauen lockern sich im vereinseigenen Fitnessstudio: Erst vor knapp vier Jahren gründete Bildstein die Damenmannschaft, deutschlandweit gibt es nur eine Handvoll. Bärbel dehnt ihre Muskeln auf der „Rüttelplatte“. Kollegin Martina an der Rudermaschine daneben, stilecht umgebaut mit Tau, zieht schon ihr halbes Leben. Als Jugendliche hat sie bei den Männern begonnen. Ankerfrau Julia hat ein Motivationskörbchen für das Team gebastelt, mit Kirschlikör, Schokolade und einer Postkarte: „Eine zieht für alle, alle ziehen für eine!“
Abwechselnd treten die Damen und Herren an, mit zwei Zügen pro Partie. Die Pfahlbronner Teams jubeln sich gegenseitig zu. Ihre knallorangenen Trikots leuchten. Die Hemden sind vom Rugby entliehen: „Heavy Cotton“, mit verstärkten Seiten, damit das Seil nicht an den Rippen reibt und die Haut aufschürft. An den Füßen tragen sie schwere, umgebaute Eishockeystiefel. Die Kufen sind abmontiert, dafür glatte Metallplatten an die Sohle geschraubt. Die Kanten schärfen die Zieher vor jedem Turnier mit der Flex, für einen besseren Halt im Matsch. Einzig erlaubtes Hilfsmittel ist Baumharz, zum Schutz der Hände.
Wolfgang hat vorsorglich sein Knie bandagiert. Mit 55 Jahren ist er der älteste unter den Herren, der einzige, der vom Ursprungsteam übrig geblieben ist, ein drahtiger Lockenkopf, von der Statur eher Typ Läufer und Radler. Bei kaum einer anderen Sportart können Mittfünfziger an der Seite von gerade 20-Jährigen kämpfen. Er hat versucht aufzuhören. Umsonst. „Es fehlt doch etwas. Nicht nur das Ziehen, sondern vor allem die Gruppe.“Nur von Leuten, die es nie selbst getestet haben, könne das Klischee des „Stammtischsports“stammen.
Bis 1920 war Tauziehen noch eine olympische Disziplin
Ein Breitensport, wie Fußball, Joggen oder Tischtennis war Tauziehen nie. Bis 1920 war es olympische Disziplin. Die Schweiz, Südafrika oder Irland sind heute international die führenden Nationen am Seil. In Deutschland stammen sechs der sieben Bundesliga-Mannschaften aus Baden. Sämtliche Teams kommen aus Dörfern. Tauziehen ist laut Bildstein nicht nur Rand-, sondern auch Landsportart. In Stuttgart, ist er überzeugt, könne das sich niemals durchsetzen. Zu wenig Zusammenhalt. Genau der ist vielleicht das Geheimrezept für die Tauziehfreunde. Sie trainieren nicht nur gemeinsam. Die Vereinsgaststätte ist Treffpunkt für den ganzen Ort. 10 000 Arbeitsstunden stecken im selbstgebauten Häuschen der Tauziehfreunde.
Während die Besucher am Wochenende gut 2000 Liter Bier schlürfen, gib es für die Tauzieher in den Pausen zwischen den kräftezehrenden Zügen isotonisches Wasser. Sie feiern erst, wenn sie erfolgreich waren. Nach dem letzten Zug lassen sich die Pfahlbronner zu Boden plumpsen, reißen die Arme hoch, die schlammverspritzten Gesichter entspannen sich. Bildstein wird am nächsten Tag keine Stimme mehr haben. „Hab ich euch schon gesagt, dass ich einigermaßen zufrieden mit euch war?“Er zwinkert, seine blauen Augen blitzen.
Zwei Zieher bringen Krüge zum Anstoßen: „Auf die Tauzieher ein dreifaches Hauruck!“
Das Tauziehfest findet vom
12. bis 14.Mai in Pfahlbronn statt. Am Samstag ist ein Hobbyturnier, am Sonntag das Landesligaturnier, unter anderem mit dem Tauziehclub Kaiserberg aus GöppingenLenglingen, dem Tauziehclub Affalterried und den Doibacher Löwen/Schwäbisch Gmünd.