Kultur des Wegschauens machte Missbrauch möglich
Hunderte Gewaltopfer bei Domspatzen – Kritik an Ratzinger und Müller
REGENSBURG (dpa) - Der Ruf der Schule war jahrzehntelang untadelig. Schließlich steht die ehrwürdige katholische Kirche dahinter. Bei den Regensburger Domspatzen singen die Knaben gemeinsam, sie lernen in der Schule und im Internat, verbringen dort auch ihre Freizeit. Was sollte schon passieren? Doch für viele Schüler war es die schlimmste Zeit ihres Lebens mit Demütigungen, Gewalt und sexuellen Übergriffen. 547 Opfer listet der Abschlussbericht auf, den das Bistum Regensburg in Auftrag gegeben hat, um vor allem die Fälle zwischen 1945 und Anfang der 1990er-Jahre aufzuklären.
Der Anwalt Ulrich Weber stellte sein Werk am Dienstag vor. Der Bericht macht klar, was verkehrt lief: Sadismus und Gewaltneigung bei Erwachsenen. Fehlende Kontrolle und übermächtiges Vertrauen in die Kirche. Dazu eine Kultur des Wegschauens. Die Verantwortung tragen in Webers Augen nicht nur die Täter. Alle Verantwortungsträger hätten ein Halbwissen über Gewaltvorfälle gehabt, aber wenig Interesse daran gezeigt, konstatiert der Jurist. Das galt auch für den ehemaligen Chorleiter Georg Ratzinger. Der Bericht wirft ihm Wegschauen und fehlendes Einschreiten trotz Kenntnis vor. Der Bruder des späteren Papstes Benedikt XVI. bereute seine Passivität und entschuldigte sich. Kritik gab es auch am früheren Regensburger Bischof und heutigen Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Dieser hatte bei Bekanntwerden des Skandals 2010 eine Aufarbeitung in die Wege geleitet. Diese Aufarbeitung sei aber mit vielen Schwächen behaftet gewesen, etwa weil man nicht den Dialog mit den Opfern gesucht habe, heißt es im Bericht. Kardinal Müller sieht keine Versäumnisse. Anfang Juli wurde er von Papst Franziskus als Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan abberufen.
Besonders schlimm war die Situation wohl bei den Grundschülern in der Vorschule in den 1960er- und 1970er-Jahren. „Die Kindheit im Sinne einer schönen, glücklichen Zeit war mit dem Eintritt bei den Domspatzen vorbei. Ein regelrechter Alptraum hatte begonnen. Es war die Hölle“, wird ein Betroffener zitiert. „Das Schlimmste war die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein und die totale Schutzlosigkeit in einem Alter, in dem man eigentlich Zuwendung braucht“, formuliert ein anderer.
Glaube an Integrität der Kirche
„Der Dreiklang aus Gewalt, Angst und Hilflosigkeit sollte dazu dienen, den Willen der Schüler zu brechen und ihnen Persönlichkeit und Individualität zu nehmen“, resümiert Rechtsanwalt Weber. Wie das aussah, beschrieb ein Vorschüler aus den 1960er-Jahren: „Mehrere Male am Tage hieß es Antreten in Zweierreihen, oft unter einer Normaluhr im Flur, um dann zur Kapelle oder in den Speisesaal zu marschieren. Damit dieser Vorgang rasch ging, erhielten die letzten beiden einen festen Schlag mit der zischenden Weidengerte.“Der Grund sei oft nichtig gewesen, ungewaschene Hände etwa reichten schon. Am Gymnasium wurde es dem Bericht zufolge besser. Er könne sich „nur“an Ohrfeigen und Kopfnüsse erinnern, beschrieb ein Ehemaliger die Zeit.
Doch auch hier setzten sich Gewalt und Missbrauch fort, vor allem durch einen Internatsleiter. Ein Bub beschreibt, wie sich der Mann zu ihm ins Bett legte und zudringlich wurde: „Die Tatsache, dass wir beide am nächsten Morgen zu Beginn der Frühmesse, er als Priester, ich als Ministrant, gemeinsam sprachen, so als wäre nichts geschehen, hat schon damals mein Verständnis von einer heiligen katholischen Kirche tief erschüttert. An meinem tiefen Glauben an Gott hat dies nichts geändert, denn allein dieser Glaube hat mir geholfen, das ganze Leid durchzuhalten und zu überstehen.“
Warum bekam das niemand mit? Weber spricht von einem System der Isolation. Wer etwas sagte, musste mit harten Konsequenzen rechnen – deshalb hielten viele lieber den Mund. Außerdem wollten viele Eltern nicht so recht glauben, was ihre Söhne ihnen anvertrauten. Ihr Glaube an die Integrität der Kirche war offenbar stärker als an die Ehrlichkeit ihrer Kinder.