„Reformation in langen Zeiträumen betrachten“
Historiker Elmar L. Kuhn beschreibt, wie der Protestantismus in Oberschwaben gewirkt hat
RAVENSBURG - 2017 war das SuperGedenkjahr für die „Reformation“. Der Begriff erweckt den Eindruck einer einheitlichen Bewegung. Doch das war sie nicht. Die Entwicklung in Nord- und Mitteldeutschland verlief anders als im Südwesten. Der Historiker Elmar L. Kuhn, Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender der Gesellschaft Oberschwaben und langjähriger Leiter des Kulturamtes des Bodenseekreises, erklärte im Interview mit Barbara Miller die Besonderheiten der historischen Entwicklung in der Region von der Alb bis zum Bodensee.
Wie kamen die reformatorischen Ideen in den Süden des Reichs?
Die Flugschriften Luthers haben sich dank des neuen Mediums Buchdruck sehr rasch verbreitet und wurden auch bald im deutschen Süden gelesen. Besser gebildete Prediger in den Reichsstädten haben seine Ideen aufgenommen und ab 1519/1523 wurde von Kanzeln in Konstanz, Memmingen, Lindau, Isny und Biberach die reformatorische Lehre verkündet.
Von welchen Reformatoren waren diese Prediger beeinflusst – von Luther oder Zwingli ?
Durchgesetzt haben sich in Oberschwaben zuerst die zwinglianischen Einflüsse. Zwingli kam den städtischen Gegebenheiten eher entgegen. Bei ihm ist die Verbindung zwischen politischem und reformatorischem Handeln enger als bei Luther. Das hat der Situation in den oberdeutschen Reichsstädten eher entsprochen. Aus politischen Gründen wiederum wurde aber nach 1530 der zwinglianische Einfluss zurückgedrängt. Man hat den Rückhalt der größeren lutherischen Landesherrschaften gebraucht.
Wie ist es dazu gekommen, dass die Reichsstädte Lindau, Memmingen, Konstanz und Straßburg mit dem „Vierstädtebündnis“1530 zum Reichstag nach Augsburg gegangen sind?
Der Hauptdissens zwischen Lutheranern und Zwinglianern besteht im Abendmahlsverständnis: Sind Brot und Wein Leib und Blut Christi oder bedeuten sie nur Leib und Blut Christi? Das Vierstädtebündnis war der Versuch, eine mittlere Linie zwischen Luther und Zwingli zu finden. Der Impuls ging von Straßburg aus, der bedeutendsten unter den vier Städten. Wobei man nicht vergessen darf, dass die Reichsstädte im 15. und frühen 16. Jahrhundert noch ein Machtfaktor waren.
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen den Ideen Luthers und dem Bauernkrieg?
Aus Luthers Sicht gar keinen. Die Bauern hätten seine „Freiheit eines Christenmenschen“allzu konkret auf ihre Lebensverhältnisse bezogen. Die reformatorisch gesinnten Pfarrer und Laien, die die Programme der Bauern verfasst haben, haben sich wie die Prediger in den Städten eher an Zwingli als an Luther orientiert. Gerade Zwingli war der Meinung, dass das Evangelium direkt in politische Strukturen und Verhaltensweisen umgesetzt werden müsse. Natürlich war er dann auch dagegen, dass Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich infrage gestellt werden. Die Zwölf Artikel von Memmingen sind maßgeblich von dem Kürschnergesellen Sebastian Lotzer und dem Memminger Prediger Christoph Schappeler verfasst worden. Schappeler hat geschrieben, dass Leibeigenschaft nicht mit dem Evangelium vereinbar sei. Die Rappertsweiler Artikel der Untertanen des Klosters Weißenau, der Grafschaft Tettnang und des Lindauer Umfeldes von 1525 hat ziemlich sicher der Esseratsweiler Pfarrer geschrieben. Wieweit die Bauern tatsächlich die reformatorische Lehre aufgenommen haben oder eben in erster Linie an den Konsequenzen für eine Verbesserung ihrer Lage interessiert waren, wissen wir nicht.
Wie haben sich die unterschiedlichen Reichsstände in Schwaben gegenüber der Reformation verhalten?
Bis 1525 hat sich keine Obrigkeit klar entschieden. Es gab in einzelnen Reichsstädten, zum Beispiel in Isny, schon sehr früh Interesse an der Reformation. In vielen Städten war die Obrigkeit nicht zufrieden mit der Ausbildung des Klerus und hat deswegen Predigerstellen geschaffen. Dorthin beriefen sie gut ausgebildete Theologen. Und diese Prädikanten haben sich sehr früh mit der Reformation befasst und in reformatorischem Sinne auch gepredigt. Das ist wiederum von der Bevölkerung aufgenommen worden. Entscheidend war dann: Wie verhält sich der Rat dazu? Und da waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. In manchen Städten wie Überlingen hat der Rat solche Predigten sofort radikal unterbunden. Der Prediger wurde aus dem Franziskanerkloster vertrieben. In vielen Städten hat man zunächst mal abgewartet. In wenigen Städten wie eben in Isny haben der Rat und einzelne Patrizierfamilien sehr früh mit der Reformation sympathisiert. In den meisten Städten jedoch blieb das Patriziat lange zurückhaltend.
Wie hat sich der Adel verhalten?
Der Adel Oberschwabens stand immer unter dem Druck der Habsburger, weil ja überall hier habsburgische Territorien eingesprenkelt waren. Der oberschwäbische Adel hat sich bis auf ganz wenige Niederadelige nicht getraut, sich von der katholischen Religion abzuwenden.
Und die geistlichen Herrschaften?
Da war es sowieso klar, dass sie altgläubig blieben. Der Hauptvertreter der Altgläubigen war Gerwig Blarer (1495-1567), der Abt von Weingarten. Der hielt gar nichts von der Reformation und hat auch nichts von den Gedanken der katholischen Reform aufgenommen. Er war vornehmlich ein lebenslustiger Landesherr und hat die kaiserlichen Interessen vertreten. Mit Religion hat er inhaltlich nichts im Sinne gehabt. Es sollte halt alles so bleiben, wie es ist.
Welche Reichsstädte evangelisch? wurden
In einer frühen Welle gingen die Reichsstädte Isny, Kempten, Lindau, Konstanz und Biberach bis 1532 zur Reformation über, wesentlich später, 1539 bis 1545, folgten die Reichsstädte Kaufbeuren, Leutkirch und Ravensburg. Nach der Niederlage der evangelischen Stände im Schmalkaldischen Krieg (1546-47) zwang der Kaiser die oberschwäbischen evangelischen Städte zur Übernahme des „Interims“. Sie mussten die riesigen Kriegskosten bezahlen, die sie fast ruinierten, die Messe wieder einführen und die Rechte katholischer Minderheiten respektieren. Konstanz, das sich dem Interim nicht fügen wollte, verlor seinen Status als Reichsstadt, wurde österreichische Landstadt und zwangsweise wieder katholisiert. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 sicherte den altgläubigen Minderheiten in Biberach und Ravensburg gleiche politische Rechte, mit großen Einschränkungen auch in Leutkirch.
Hatte die Entscheidung für oder gegen die Reformation auch soziale Gründe?
Katholisch geblieben sind vor allem die kleineren Reichsstädte wie Buchau, Buchhorn, Pfullendorf, Überlingen und Wangen. Das Gewerbe hat hier keine große Rolle gespielt. Sie waren stark in das agrarische Umland eingebunden. Überlingen war sowieso immer kaisertreu. Die Überlinger waren sozusagen bestochen, die hatten eine Geheimzusage vom Kaiser, dass sie zum Schwäbischen Bund nur die Hälfte der eigentlich geforderten Zahlungen beitragen sollten. Der Reformation zugewandt haben sich eher die Gewerbestädte. Dort gab es Spannungen zwischen Handwerkern und Kaufleuten. Die Handwerker, vor allem die Weber, gerieten unter Druck der reichen Oberschicht.
Welche Rolle spielten bei der Durchsetzung der Reformation religiöse Gründe, welche politischökonomische? Oder anders gefragt: Wie religiös war die Reformation?
Bei manchen Fürsten war gewiss das ökonomische Interesse vorherrschend. Bei den Reichsstädten gab es schon vor 1525 das Bestreben, Einfluss auf kirchliche Strukturen zu gewinnen. Der Rat stand in Konkurrenz zum Bischof oder zu den Klöstern. Zum Beispiel Ravensburg: Die beiden Stadtkirchen standen unter dem Patronat der Klöster Weißenau und Weingarten. Der Rat der Stadt hatte keinerlei Einfluss auf das Personal. Das war denen dauernd ein Dorn im Auge, zumal die Klöster häufig nicht besonders qualifizierte Kandidaten dahin geschickt haben. Durch die Reformation konnte sich der Rat eine andere Machtposition erobern, übrigens auch in den katholisch gebliebenen Reichsstädten. Überlingen zum Beispiel hat dem Bischof das Patronat einfach abgekauft und eine strenge Kirchenaufsicht geübt. Der Bischof hatte in der Stadt nichts mehr zu sagen. In den evangelischen Reichsstädten hatte der Rat die absolute Kirchenobrigkeit. Es gab keine Lehrautorität mehr oberhalb dieser Instanz. Dennoch kann man nicht sagen, religiöse Gründe wären nicht wichtig gewesen. Die Reformation ließ sich nur durchsetzen, wenn sie von einer breiten Schicht getragen wurde. Ob und inwieweit das Befreiende der reformatorischen Gnadenlehre hier von großer Bedeutung war, kann man aber nicht sagen.
Wie hat man sich das vorzustellen, wenn das neue Bekenntnis eingeführt wurde?
Das war eine sehr konfliktreiche Sache. Beispiel Ravensburg: Dort gab es, wie übrigens auch in Biberach, eine Abstimmung. Nur eine kleine Minderheit wollte altgläubig bleiben. Dann wurde als Erstes die Messe verboten, und Katholiken durften nicht „auslaufen“, das heißt die Messe in der ländlichen Umgebung besuchen. Man hat versucht, die reformatorische Lehre in der gesamten Bevölkerung durchzusetzen. Erst im Augsburger Religionsfrieden von 1555 gab es für die Reichsstädte eine Ausnahmeregelung. Den Landesherren hat man das Recht zugestanden, zu entscheiden, welcher Religion ihre Untertanen angehören sollten. Religionsfreiheit galt für die Landesherren, nicht für die Bevölkerung. Für die Reichsstädte wurde bestimmt, dass es beim Stand des Verhältnisses der Konfessionen bleiben soll und im Prinzip eine Religionsfreiheit besteht. De facto ist es beim Status quo geblieben. Konnten die Bürger der Reichsstädte so selbst über ihre Konfession entscheiden, so bestimmten ihre Räte, zu welcher Konfession sich die Bevölkerung ihrer Landgebiete zu bekennen hatte. Da bisweilen strittig war, wer als Landesherr die Religionshoheit hatte, mussten z. B. die Bauern von Laimnau bei Tettnang zwischen 1530 und 1585 viermal die Konfession wechseln.
Was passierte mit katholischen Pfarrern, Klosterfrauen und Mönchen in evangelischen Gebieten?
Man hat sie vor die Wahl gestellt, die Lehre anzunehmen oder auszuwandern. Teilweise haben die Pfarrer schon vorher die Stadt verlassen. Aber in vielen Städten haben die Klöster weiterbestanden.
Deutschland ist reformatorisch betrachtet zweigeteilt – der Norden und Osten protestantisch geprägt, weite Teile des Südens überwiegend katholisch geblieben. Hat die reformatorische Bewegung dennoch etwas bewirkt, auch in der katholischen Kirche?
Die katholische Kirche hat mit Verzögerung mit dem Trientiner Konzil reagiert. Es war angedacht als Wiedervereinigungskonzil. Es gab sogar eine Sitzung, an der die Protestanten teilnahmen. Doch all ihre Eingaben wurden abgelehnt. Das Konzil hat alle Dogmen, gegen die die Protestanten gekämpft haben, bekräftigt und wurde eher zu einem Konzil der Abgrenzung. Dennoch ging von diesem Konzil auch eine gewisse kirchliche Erneuerungsbewegung aus. Einige Missstände, die zur Reformation geführt haben, sind abgestellt worden, insbesondere was die Lebensführung des Klerus betrifft. Die Visitationen wurden ernster genommen. Zum Beispiel beim Konkubinat. Das war bei katholischen Geistlichen absolut üblich. Aber es ist 20, 30 Jahre nach Einführung der Visitationen völlig verschwunden. Man muss die Reformation in langen Zeiträumen betrachten. Auch was zum Beispiel die Bildung des Klerus betrifft. Die Forderung des Konzils, dass es in jeder Diözese ein Priesterseminar geben soll, wurde zum Beispiel im Bistum Konstanz erst im 18. Jahrhundert umgesetzt.
Hatte die Reformation einen Modernisierungseffekt?
Das ist die Frage: Was ist mit Modernisierung gemeint? Wirkliche Modernisierung im Sinne von Rationalität und Aufklärung – das hat doch noch lange gedauert. Und von der religiösen Freiheit und der Gewissensfreiheit, die von Luther propagiert wurde, findet man in der lutherischen Kirche bis ins späte 18. Jahrhundert hinein keine Spur. Da war man genauso dogmatisch wie die Katholiken auch. Einen Schub im Sinne von individueller Freiheit hat die Reformation nicht gebracht. Eher im Gegenteil.