Eine Landschaft, viele Stimmen
Ein stattlicher Band arbeitet die schillernde Literaturszene in Oberschwaben von 1945 bis heute auf
Gut Ding will Weile haben. Ein Gemeinplatz, aber unzweifelhaft richtig. 2011 fand im Kloster Inzigkofen eine vom Landkreis Sigmaringen und der Gesellschaft Oberschwaben organisierte Tagung zur „Literaturlandschaft Oberschwaben“statt. Ihr Nachhall sollte – wie üblich – in Buchform festgehalten werden, was sich dann in die Länge zog. Dennoch erfüllt der nun vorgelegte Band genau die Erwartungen, die der Titel weckt: „Literatur in Oberschwaben seit 1945“.
Lichtgestalt Walser
So homogen Oberschwaben für Außenstehende ob seiner vermeintlichen Rückständigkeit erscheinen mag, so heterogen zeigt sich seine Literatur seit Kriegsende schon im ersten Beitrag. Bei der Tagung war Manfred Bosch (siehe unten) zwar nicht dabei, aber durch seine Kenntnis der Szene erweist sich der Konstanzer Autor als der ideale Kommentator. Natürlich sieht er sich verpflichtet, über 50 Seiten hinweg Namen abzuarbeiten. Aber hohles Namedropping ist das gerade nicht, sondern ein kundiges Charakterisieren der verschiedensten Autoren – der Autochthonen und der Immigranten, der Arrivierten und der Novizen – und ein Einbetten ihres Oeuvres in das literarische Umfeld. Wenn er letztlich die Hervorbringungen Oberschwabens als eine Mischung von „Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchlichem, vor allem aber von Vielstimmigkeit und Reichtum an Aspekten“sieht, so ist das überzeugend.
Martin Walser, der Lichtgestalt literarischen Schaffens in Oberschwaben, widmet Autor Peter Renz eine von enger Vertrautheit geprägte Eloge. Dabei legt er die Betonung zu Recht auf das selbstlose Wirken des „Patrons“und „Seelsorgers“vom Bodensee – ob es um die Förderung von Institutionen wie der „Literaturstiftung Oberschwaben“geht oder um das Entdecken und Ermuntern von bislang verborgenen Talenten, etwa Maria Menz oder Maria Beig. Diesen Marien, ergänzt noch um die dritte und älteste, Maria Müller-Gögler, gilt eine Abhandlung des Meßkircher Literaturwissenschaftlers Anton Philipp Knittel, der den Schwerpunkt auf die vielzitierte „Menschwerdung“dieser Autorinnen in einer konservativen, archaisch anmutenden Region legt. Wie sie in ihren Frauengestalten eigenes, leidvolles Erleben spiegelten, fand – so das plausible Fazit – nicht umsonst weithin Beachtung.
Interessant sind allein schon durch ihre unterschiedlichen Blickwinkel drei weitere Kapitel: Mit der Gruppe 47 in Oberschwaben, vor allem ihrem Saulgauer Treffen von 1963, macht Ewald Gruber aus eigener Anschauung vertraut. Der Germanist war Kiebitz damals, durfte in der legendären Kleber Post den Parcours der Heroen der Nachkriegsliteratur und ihr Leseritual hautnah studieren – bekam aber auch die gemischte Reaktion in der aufgeschreckten Gemeinde Saulgau mit.
Quasi im Nachgang nimmt sich dagegen Franz Schwarzbauer, seit 2003 Kulturamtsleiter der Stadt, den 2005 eingeschlafenen „Ravensburger Kreis“vor. Dabei streicht er zwar die große Leistung jener Vereinigung um Maria Müller-Gögler, Peter Hamm und Josef W. Janker heraus, nahezu alle Granden der deutschen Literatur in die oberschwäbische Stadt gelotst und auch dem regionalen Geistesleben einen Umschlagplatz geboten zu haben. Aber er konstatiert auch schonungslos ihren Untergang durch das elitäre Berauschen an der eigenen Größe.
Solitär Jünger
Oswald Burger wiederum gibt einen Abriss des heute immer noch höchst lebendigen „Literarischen Forums Oberschwaben“in Wangen. Wobei er zum einen der legendären Aufbauarbeit des ehemaligen Wangener Landrats Dr. Walter Münch für diese Talentbörse seit 1967 verdientes Lob zollt, dann aber als dessen Nachfolger über seine eigene Veranstaltung berichtet. An Ehrlichkeit gebricht es ihm allerdings nicht: Dass das Forum 1992 Robert Schneiders später zu Weltruhm gelangten Erstling „Schlafes Bruder“als belanglos verriss, wird erwähnt.
Bevor der Sigmaringer Edwin Ernst Weber als damaliger Initiator zum Schluss die Tagung von 2011 noch einmal Revue passieren lässt, spiegeln drei weitere Kapitel die Bandbreite des Themas: Ulrike Längle, Leiterin des Felder-Archivs in Bregenz, arbeitet die Unterschiede zwischen der integrativen Literaturszene in Oberschwaben und der eher auf Konfrontation gepolten in Vorarlberg heraus. Wohltuend ausgewogen schildert der Berliner Philologe Jan Robert Weber Wesen und Wirken Ernst Jüngers, des großen, umstrittenen Solitärs in der hiesigen Literatur nach 1945. Und vielleicht macht es auch die Distanz aus, dass der aus Ravensburg stammende, aber in den USA lehrende Literaturprofessor Peter Blickle einen so hellsichtigen Text über das neuere regionale Schrifttum beisteuern kann – mit Perspektivwechseln zwischen von alters her gewohnten und neu empfundenen Geschlechterrollen im Hochspannungsfeld zwischen Religion und Sexualität.
Der Band besticht durch ein sehr geschmackvolles Layout. Und zudem bietet er neben einigen Fotos verschiedener Provenienz sowie treffsicheren Zeichnungen von Hansjörg Straub eine Art Rupert-Leser-Mini-Retrospektive. Man kann noch einmal erleben, wie der im August verstorbene souveräne Bildberichter der „Schwäbischen Zeitung“über Jahrzehnte hinweg die Galionsfiguren der Literatur – ob einheimische Größen oder illustre Gäste – auf unnachahmliche Art ablichtete.
Übrigens war sich Leser als wachsamer Seismograph seiner geliebten Heimat ihrer Kontraste durchaus bewusst. Stets angetan zeigte er sich von den sanft gewellten Drumlins, die er in unzähligen Fotos festhielt. „Busebergle“nannte er sie mit vielsagendem Lächeln. Für den zugereisten Kollegen setzte er hinzu: „Obedrauf stoht manchmol au e Kreiz.“Und nach einer Pause: „So ischt dees in Oberschwabe.“ Edwin Ernst Weber (Hrsg.): Literatur in Oberschwaben seit 1945. 304 Seiten. 22 Euro.