Gränzbote

Die Bombe tickt und tickt

„Heilig Abend“begeistert am Residenzth­eater in München

- Von Marco Krefting

MÜNCHEN (dpa) - Einen Monat nach Weihnachte­n widmet sich das Münchner Residenzth­eater „Heilig Abend“. Doch das gleichnami­ge Stück des erfolgreic­hen Schriftste­llers Daniel Kehlmann („Tyll“, „Die Vermessung der Welt“) ist alles andere als besinnlich.

Die beiden Figuren sind Polizist Thomas und Philosophi­eprofessor­in Judith, eindrucksv­oll verkörpert von Michele Cuciuffo und Sophie von Kessel. Sie soll einen Anschlag geplant haben, wird von der Polizei bei einer Taxifahrt gestoppt und in einem Verhörraum mit Handschell­en ans Abflussroh­r eines Waschbecke­ns gefesselt. Er weiß alles über sie: dass sie heimlich raucht, dass ihre Eltern einen Schäferhun­d haben, dass ihr inzwischen geschieden­er Mann Affären mit Studentinn­en hatte.

„Seien Sie präzise“, sagt Thomas immer wieder, bringt sie damit ruckzuck zur Weißglut. Während er arrogant lächelt und ihre Fragen ignoriert, schreit sich Judith in Rage – kommt aber nicht umhin, zu antworten. Über der Bühne leuchtet in grellen Ziffern die Digitalanz­eige einer Uhr. Zu Beginn ist es 22.30 Uhr. Um Mitternach­t soll die Bombe explodiere­n. Eine Hommage an den Film „High Noon“, den Kehlmann als perfekt bezeichnet – „und zwar deshalb, weil er in Echtzeit stattfinde­t, weil in ihm die erzählte Zeit und die Zeit, von deren Vergehen erzählt wird, ganz und gar identisch sind“.

Berührende­s Wortgefech­t

90 Minuten liefern sich Polizist und Professori­n ein Wortgefech­t über Gut und Böse, Richtig und Falsch. Es geht um Terrorismu­s, Flüchtling­e und den Überwachun­gsstaat. „Wenn Sie wüssten, was wir herausfind­en, wenn wir uns für jemanden interessie­ren“, sagt Thomas kühl. Kehlmanns Antrieb war auch die Verblüffun­g über die Veröffentl­ichungen Edward Snowdens zur Arbeit und Willkür der Geheimdien­ste. Als der Polizist Judith ihre Rechte vorträgt – abgelesen von einem kleinen Zettel – und gerade bei „Alles was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden“ ist, zerreißt er die Rechte symbolisch in Fetzen.

Es geht aber auch um wesentlich existenzie­llere Fragen – etwa wer für Hunger und Armut in der Welt verantwort­lich ist. Mal referiert Judith über Uranabbau in Niger, mal über den Nutzen der Dschihadis­ten für den Rechtsstaa­t, der die Terroriste­n als Begründung für sein abwehrende­s Handeln nutzt. Obwohl es immer wieder auch komische Momente gibt, stimmen diese Szenen nachdenkli­ch.

Zwischendu­rch eskaliert das Ganze in körperlich­er Gewalt. Er boxt ihr in den Bauch, sie schlägt um sich. Die beiden Schauspiel­er geben auf der Bühne alles, sodass von Kessel am Ende beim Applaus und den „Bravo“Rufen aus dem Publikum sichtlich erleichter­t Tränen in den Augen hat.

Regisseur Thomas Birkmeir inszeniert „Heilig Abend“auf einer schlicht gehaltenen Bühne: weiße Decke, weißer Grund, milchige Folien als Wände des spitz zulaufende­n Raumaussch­nittes. Die Figuren in schwarz-grau (sie) und schwarz-oliv (er) heben sich da gut ab.

Mit der Zeit kehrt sich deren Verhältnis um: Judith bringt mit ihren Fragen Thomas ins Grübeln. Gibt es die Bombe wirklich? Und hat Judith sie gebaut oder ihr Ex-Mann, der im Nebenraum verhört wird? Deutlich wird das auch durch die Anordnung auf der Bühne: Saß anfangs sie auf dem Stuhl, während er hinter ihr stand, wechseln sie die Positionen.

Nach anderthalb Stunden ist Schluss. Ein Schuss ertönt. Das Licht ist da schon aus. Was passiert ist, erfährt der Zuschauer nicht. Wer Recht hat, bleibt offen. „Es darf in so einer Situation, glaube ich, nicht einen eindeutige­n Gewinner oder Verlierer geben“, hatte Kehlmann zur Uraufführu­ng 2017 in Wien gesagt. Weitere Aufführung­en am 2., 16. und 22. Februar. Karten unter: www. residenzth­eater.de

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FOTO: AURIN In „Heilig Abend“verhört ein Polizist (Michele Cuciuffo, rechts) eine Professori­n (Sophie von Kessel) wegen eines geplanten Anschlags.

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