Tötung von Neunjähriger: Landgericht spricht Mutter frei
Die Schöffenkammer in Kempten ist von der Schuldunfähigkeit der 49-jährigen Frau überzeugt
●
LINDAU/KEMPTEN - Sie wollte ihrem verstorbenen Lebensgefährten ins Jenseits folgen. Aus diesem Grund hat eine heute 49-jährige Frau aus Lindau im September 2016 versucht, sich das Leben zu nehmen – und vorher ihre neunjährige Tochter getötet. Das Kemptener Landgericht hat die Frau am Dienstagabend für schuldunfähig befunden und freigesprochen.
Erst nach einigem Hin und Her sagte die Angeklagte aus. Ihre Anwältin hatte zunächst den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt, den Antrag später aber wieder zurückgezogen. Als die Frau schließlich zu erzählen begann, wurde deutlich, welch Drama sich am Abend des 12. September 2016 und der darauffolgenden Nacht in der Lindauer Wohnung abgespielt hatte. Ganz still wurde es im Gerichtsaal, als die Mutter berichtete, wie sie ihrer Tochter zwei Schlaftabletten in den Tee gemischt hatte und ihr Stunden später ein Kissen aufs Gesicht drückte.
„Was ist dann passiert?“, fragte Richter Gunther Schatz. „Sie ist aufgewacht“, antwortete die Angeklagte nach einer langen Pause. Das Mädchen hatte den Tee wegen seines bitteren Geschmacks nicht ausgetrunken und offenbar nicht tief genug geschlafen. Fünf lange Sekunden hatte es versucht, sich zu wehren. Doch die Angeklagte habe das Kissen nicht losgelassen und gedacht: „Wir gehen zu Papa.“Dann legte sie ihrer Tochter ein Foto des Vaters in die Hand.
Der Vater des Mädchens hatte sich zwei Monate vor der Tat das Leben genommen. Ein Verlust, den die Angeklagte nicht ertragen hatte. Lang erzählte sie von der besonderen Beziehung, die sie zu ihrem Lebensgefährten gehabt hatte. „Er war der einzige Mensch, der mir zugehört hat. Ich hatte das Gefühl, dass ich vor ihm gar nicht richtig gelebt habe.“
Die Mutter und die beiden erwachsenen Kinder der Angeklagten dagegen sehen die Beziehung kritisch. „Sie hätte alles für ihn gemacht“, sagte die Tochter der Angeklagten aus. Dabei habe er ihre Mutter betrogen und schlecht behandelt.
Grundschulleitung ruft Polizei
Als ihre Tochter nicht mehr atmete, versuchte die Angeklagte, sich umzubringen. Am Vormittag des 14. September wachte sie im Lindauer Krankenhaus wieder auf. Ihr Arbeitgeber und die Leitung der Grundschule der Neunjährigen hatten die Polizei gerufen. Rettungskräfte hatten die Angeklagte wiederbelebt.
Einen Tag später kam sie in Untersuchungshaft. Dass sie für den Tod ihrer Tochter verantwortlich war, war schnell klar. In Abschiedsbriefen an ihre Kinder und ihre Eltern hatte sie um Entschuldigung dafür gebeten – und erklärt, warum sie ihre Tochter mit in den Tod nehmen wollte. „Sie wäre daran zerbrochen. Ich wusste nicht, wohin mit ihr.“In ihrem letzten Willen bat sie darum, mit ihrer Tochter neben dem Lebensgefährten beerdigt zu werden.
Die Schöffenkammer des Landgerichts sollte nun entscheiden, ob die Angeklagte für ihre Tat bestraft werden muss. Ein Gutachter, der kurz nach der Tat mit der Frau gesprochen hatte, befand sie für nicht steuerungsfähig. „Eine schwere Depression kann keiner nachvollziehen, der das noch nicht hatte“, sagte er. Die Tötung der Tochter erklärte er so: „Sie wollte ihr Kind vor schwerem Leid bewahren.“Ein zweiter Gutachter, der allerdings nie mit der Angeklagten persönlich gesprochen hatte, beurteilte die Situation etwas anders. Er attestierte ebenfalls eine Depression, ihre Steuerungsfähigkeit sah er zum Tatzeitpunkt aber nicht aufgehoben.
Staatsanwalt Martin Slach forderte eine Gefängnisstrafe von vier Jahren. „Sie hat einen Menschen, für den sie als Mutter die meiste Verantwortung hatte, der Zukunft beraubt“, sagte er. Die Angeklagte, die die komplette Verhandlung über weinte, entschuldigte sich an deren Ende. „Es tut mir sehr leid. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen“, sagte sie.
Richter Gunther Schatz begründete den Freispruch mit einer Psychose der Angeklagten, von der die Kammer letztendlich überzeugt gewesen sei. „Die Frau hat immer gearbeitet, war ordentlich, selbstbewusst und nie straffällig. Aber sie war einem Partner verfallen, der ihr objektiv nicht gut getan hat. Sein Tod hat zur Einengung ihres Denkens geführt, ihr Leben hatte keinen Sinn mehr.“
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die 49-Jährige, die bereits im Februar 2017 aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, in der Zwischenzeit aber immer wieder in der Psychiatrie war, ist nun aber erst einmal frei.