Gränzbote

„Man darf nicht alles infrage stellen“

Vorsitzend­e Rita Liebermann zu zehn Jahren Kinderschu­tzbund Spaichinge­n

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SPAICHINGE­N - Vor zehn Jahren ist der Spaichinge­r Kinderschu­tzbund gegründet worden. Am Samstag, 23. Juni, feiert er mit Kinderwork­shops und Talentshow­s sein erstes Jubiläum auf dem Marktplatz. Rita Liebermann ist seit der ersten Stunde Vorsitzend­e des Kinderschu­tzbunds Spaichinge­n. Im Interview mit Volontärin Caroline Messick blickt die 63-Jährige auf schöne und dunkle Momente zurück, die sie in ihrem Ehrenamt erlebt hat.

Seit zehn Jahren helfen Sie Kindern und Familien in Not. Wie kamen Sie dazu?

Doktor Oehrle, unser Schriftfüh­rer, hatte vor seinem runden Geburtstag die Idee, auch für Spaichinge­n eine Anlaufstel­le für Kinder und Familien einzuricht­en. Die umliegende­n Kinderschu­tzbundstel­len in Trossingen, Tuttlingen und Rottweil gab es schon lange. Herr Oehrle informiert­e sich also in Tuttlingen, nahm das Geld, das durch Spenden anlässlich seines Geburtstag­s zusammenka­m, in die Hand, und finanziert­e so den Grundstock. Dann fragte er mich, ob ich nicht als Ehrenamtli­che mithelfen wolle. Ich überlegte kurz und stimmte zu. Heute hat diese ehrenamtli­che Arbeit einen wichtigen Stellenwer­t für mich – sie gehört jetzt einfach dazu.

Wer sucht Ihre Hilfe?

Da geht es meist um Familien, denen es aus den unterschie­dlichsten Gründen nicht immer gut geht und die sich auch trotz Bemühungen bestimmte Dinge nicht leisten können. Wenn dann die Kinder nicht beim Schulausfl­ug mitgehen können ... Da greifen wir unterstütz­end ein, sodass die Kinder im Klassenver­band nicht außen vor sind, sondern auch dabei sein können. Diese Familien sind uns ganz wichtig; Familien, die mit ihrem niedrigen Einkommen ihren Kindern nur einen bescheiden­en Lebensstan­dard bieten können. Hier versuchen wir dann, zu unterstütz­en und vermitteln weiter. Das sind so die Dinge, wo ich denke, da geht es uns allen schon sehr gut.

Haben Sie oft mit Familien zu tun, bei denen genau das Gegenteil der Fall ist, also denen es wirklich richtig schlecht geht?

Finanziell gesehen, ja. Da versuchen wir dann mit Spendenakt­ionen auszuhelfe­n. Allerdings haben wir in Spaichinge­n ja keinen Raum, können Sachspende­n also kaum lagern, geschweige denn eine Betreuung anbieten, wie es in Tuttlingen, Trossingen oder Rottweil möglich ist. Trotzdem kommen manchmal auch Leute auf uns zu, die Begleitung brauchen. Diese Begleitfäl­le, bei denen richtiges Fachperson­al gefragt ist, vermitteln wir an den Kinderschu­tzbund in Tuttlingen oder kontaktier­en Familienhe­lfer.

Sind Sie dennoch mit Fällen in Berührung gekommen, die Sie emotional besonders mitgenomme­n haben?

Wo ich sehr stark schlucken musste, war ein Fall, bei dem wir über eine Familienhe­lferin in Kontakt gekommen sind. Da hatte eine alleinerzi­ehende Mutter um Betreuungs­hilfe für ihre drei Kinder gebeten. Als Dankeschön hat sie uns ein Bild von den dreien geschickt, das ich heute noch habe. Das kleinste der Kinder ist leider verstorben und bei der Untersuchu­ng des Falles wurde festgestel­lt, dass das Kind sexuell missbrauch­t worden war. So etwas ist für mich absolut das Schlimmste. Die beiden anderen Kinder sind jetzt nicht mehr bei der Mutter, trotzdem beschäftig­t mich das heute noch.

Wie schaffen Sie es, mit solchen Fällen umzugehen?

Das ist schon schwierig. Du gehst damit schon irgendwie um, kannst es aber leider selbst nicht verhindern. Deshalb lege ich so großen Wert auf Kurse für Kinder, weil es uns ein sehr großes Anliegen ist, dass die Kinder beschützt werden und geschützt sind. Für jedes Kind ist es sehr wertvoll, wenn es gelernt hat, sich selbst zu schützen und einzuschät­zen, was okay ist und was nicht; egal, ob es um Gewalt auf dem Schulhof geht oder um sexuelle Übergriffe.

Nehmen Sie solche Fälle in Gedanken auch mit nach Hause?

Ja, immer wenn Kinder die Leidtragen­den sind, macht mir das schon zu schaffen. Ich habe mich selbst auch stark durch die Arbeit beim Kinderschu­tzbund verändert. Man beobachtet Situatione­n jetzt ganz anders, als man das vielleicht früher getan hat. Ein liebevolle­s Tätscheln auf den Kopf oder Umarmungen zwischen Erwachsene­n und Kindern ... Aber natürlich darf man nicht alles infrage stellen – und doch macht man sich einfach selbst viel mehr Gedanken.

Auch mit dem Hintergrun­d, dass man immer wieder von schlimmen, sexuellen Übergriffe­n und Gewalt an Kindern in allen Gesellscha­ftsschicht­en erfahren muss. Ich akzeptiere heute anders und mehr als früher, wenn meine beiden Enkel nicht geknuddelt oder geküsst werden wollen. Aber dadurch, dass der Verein in Spaichinge­n so klein ist, bieten wir, wie gesagt, selbst keine Familienbe­gleitung an, sind von richtig harten Fällen also noch recht weit entfernt. Dafür bieten wir einzelne Projekte an und leisten Schwerpunk­tarbeit.

Und wie sieht die aus?

Wir helfen zum Beispiel bei Wohnungsau­flösungen und vermitteln dann die Kleidung und Möbel an bedürftige Familien weiter. Außerdem geben wir Infokurse in Schulen und haben jedes Jahr eine Weihnachts­spendenakt­ion. Da erhalten die Kinder Geschenke, deren Eltern sich das nicht hätten leisten können. Finanziert wird das alles über Spendengel­der. Davon erhalten wir glückliche­rweise jede Menge. Und weil wir so klein sind und komplett ehrenamtli­ch arbeiten, fließen die gesamten Spenden in die Projekte. Erst kürzlich konnten wir so auch wieder die Schulranze­naktion durchführe­n, bei der Kinder einen Schulranze­n zum Schulbegin­n erhalten.

Das sind dann die schönen Momente Ihrer Arbeit...

Genau. Wenn die Eltern mit ihren Kindern die Schulranze­n abholen und sich herzlich bei uns bedanken; und die Kinder die Schulranze­n richtig stolz und freudestra­hlend in Empfang nehmen. Man muss am Ende aufpassen, dass man nicht immer nur das Schlechte sieht. Es gibt schöne Momente, wie diese, wenn man zum Beispiel sieht, dass man helfen konnte und dass diese Hilfe direkt ankommt und etwas bewirkt hat.

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 ?? FOTO: LIEBERMANN ?? Rita Liebermann ist seit der ersten Stunde Vorsitzend­e des Kinderschu­tzbunds Spaichinge­n, der vor zehn Jahren gegründet worden ist. Das Jubiläum wird am Wochenende mit einem Fest gefeiert.
FOTO: LIEBERMANN Rita Liebermann ist seit der ersten Stunde Vorsitzend­e des Kinderschu­tzbunds Spaichinge­n, der vor zehn Jahren gegründet worden ist. Das Jubiläum wird am Wochenende mit einem Fest gefeiert.
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