Ärger um Kindergeldzahlungen ins Ausland
Städtetag fordert Reform – Bürgermeister im Westen beklagen kriminelle Strukturen
● BERLIN/STUTTGART - Deutschland zahlt mehrere Hundert Millionen Euro Kindergeld an Empfänger aus dem EU-Ausland. Die Zahl der Kinder, die gar nicht in Deutschland leben, ist hierbei auf eine Rekordzahl gestiegen. „Im Juni 2018 wurde für 268 336 Kinder, die außerhalb von Deutschland in der Europäischen Union oder im Europäischen Wirtschaftsraum leben, Kindergeld gezahlt“, sagte ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums am Donners- tag in Berlin. Das ist eine Zunahme um 10,4 Prozent seit Ende 2017. Damals waren es noch 243 234 Empfänger im EU-Ausland. Im Inland bekommen über 2,7 Millionen Kinder aus anderen Ländern Kindergeld.
Der Deutsche Städtetag zeigte sich am Donnerstag besorgt über die Entwicklung und forderte, das Kindergeld sollte sich daran orientieren, was Kinder in ihrem tatsächlichen Aufenthaltsland brauchen. Im Westen warnten Oberbürgermeister vor einer Zunahme der Migration ins Sozialsystem. „Die Bundesregierung verschläft dieses Problem, sie muss endlich was dagegen tun, dass es Armutsflüchtlinge in Europa gibt“, sagte Duisburgs OB Sören Link (SPD). Er sprach von kriminellen Schleppern, die gezielt Sinti und Roma aus Bulgarien und Rumänien nach Duisburg bringen würden und ihnen eine heruntergekommene Wohnung verschafften, damit sie einen Wohnsitz für den Bezug des Kindergeldes hätten. Link forderte Änderungen beim EU-Recht. Die Überweisungen ins Ausland sind legal, aber umstritten, da dort die Lebenshaltungskosten meist geringer sind. Zuletzt waren auch Betrügereien bekannt gewor- den, die sich auf Kinder beziehen, die womöglich gar nicht existieren.
Auch in Baden-Württemberg haben Eltern Anträge für mehr als 19 000 Kinder gestellt, die nicht in Deutschland leben, in Bayern sind es mehr als 35 000. Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit stammen vom Dezember 2017. Jedoch melden Städte aus dem Südwesten bislang laut Städtetag derzeit noch keine Probleme wie etwa aus Duisburg. Das Thema brenne „nicht ganz so unter den Nägeln wie den Kollegen in Nordrhein-Westfalen“, erklärte eine Sprecherin.
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VANCOUVER - Kanada will im diplomatischen Streit mit Saudi-Arabien nicht klein beigeben und auch weiterhin Menschenrechtsverletzungen in aller Welt anprangern. Das sagte Premierminister Justin Trudeau am Mittwoch bei einem Auftritt in Montréal. Es war das erste Mal, dass der Regierungschef zu den sich verschärfenden Dissonanzen öffentlich Stellung bezogen hat.
„Wir sind mit der Regierung Saudi-Arabiens weiterhin diplomatisch und politisch im Gespräch. Wir werden gleichzeitig aber immer entschieden Menschenrechtsthemen ansprechen, öffentlich und privat“, sagte Trudeau auf Nachfrage von Reportern. Die kanadische Bevölkerung, aber auch viele Menschen weltweit erwarteten von Kanada diesbezüglich eine Führungsrolle, die man auch weiter wahrnehmen werde.
Keine Entschuldigung
Trudeau wies damit indirekt die Forderungen der Saudis zurück, sich bei dem Königreich für Äußerungen seiner Außenministerin zu entschuldigen oder diese gar zurückzunehmen. Außenministerin Chrystia Freeland hatte vor einer Woche in einem Tweet die Verhaftung von Menschenrechtsaktivisten in Saudi-Arabien – unter anderem von Samar Badawi– kritisiert und sich damit den Zorn der autoritär regierenden Monarchen in Riad zugezogen. „Wir bitten die saudi-arabischen Behörden dringend, sie und alle anderen friedlichen Menschenrechtsaktivisten freizulassen.“Samar ist die Schwester des bekannten Bloggers Raif Badawi, der ebenfalls in Saudi-Arabien inhaftiert ist. Seine Ehefrau Ensaf Haidar hat gemeinsam mit ihren drei Kindern erst vor Kurzem die kanadische Staatsbürgerschaft erhalten.
Saudi-Arabien hatte daraufhin den kanadischen Botschafter aus dem Land ausgewiesen und seinen Vertreter aus Ottawa zurückgezogen. Etwa 7000 saudische Studenten, die von ihrer Regierung ein Stipendium für Kanada erhielten, sollen binnen vier Wochen zurückkehren. Saudische Patienten, die in kanadischen Einrichtungen medizinisch behandelt werden, sollen diese bis September verlassen.
Auch wirtschaftlich übt Riad Druck aus. So plant die Regierung des arabischen Landes offenbar, Gelder aus Kanada abzuziehen und Investitionen einzufrieren. Die Flüge der staatlichen Fluggesellschaft Saudia nach Toronto wurden eingestellt. Auch den Handel mit Kanada schränken die Saudis weiter ein. Die zuständige staatliche Agentur teilte dazu mit, man werde künftig keinen Weizen und keine Gerste mehr von dort einführen, Öllieferungen nach Kanada dagegen seien vorerst nicht betroffen.
Offen ist, ob es noch zu einem von der Vorgängerregierung Trudeaus eingefädelten Waffendeal mit SaudiArabien kommen wird. Riad wollte in Kanada eigentlich Militärgerät im Umfang von 15 Milliarden Dollar kaufen, was in Kanada immer wieder auch auf Kritik gestoßen war. Womöglich wird dieses Geschäft, das auch innerhalb der Regierung Trudeau umstritten war, jetzt storniert.
Die Regierung in Ottawa wurde von der heftigen Reaktion aus Saudi- Arabien überrascht – hält die Folgen aber für beherrschbar. Denn die wirtschaftlichen Beziehungen der Länder sind überschaubar. Für Kanada liegt Saudi-Arabien beim Handelsvolumen nur an 17. Stelle, noch hinter Ländern wie Taiwan oder der Schweiz. Die kanadischen Ausfuhren nach Saudi-Arabien machen nur 0,2 Prozent aller Exporte aus.
Kaum Auswirkungen
Kanada hat die weltweit drittgrößten Erdölvorkommen, eine Abhängigkeit von Riad ist damit nicht gegeben. Derzeit kommen etwa zehn Prozent aller Erdölimporte aus Saudi-Arabien, eine mögliche Lücke könnte Kanada ganz leicht mit Öl aus eigener Produktion schließen. Die kanadischen Bauern sind ebenfalls kaum betroffen, da wegen der hohen Transportkosten ohnehin kaum noch Getreide ins Königreich geliefert wurde.
Aufmerksam wurde in Ottawa verfolgt, dass sich die Verbündeten Kanadas in dem Konflikt bislang nicht offen an die Seite Kanadas gestellt haben. Tatsächlich haben sich die EU, Großbritannien und die USA mit Solidarbekundungen bislang zurückgehalten. Wie der Sender CBC berichtete, telefonierte Außenministerin Freeland am Mittwoch deswegen mit mehreren Verbündeten, um sich deren Unterstützung zu versichern, unter anderem auch mit Deutschland und Schweden. Beide Länder hatten zuletzt ebenfalls diplomatische Verwicklungen mit den Saudis.