Der Handball-Punk und das Missverständnis
Stefan Kretzschmar wird nach einem schiefen Vergleich vom rechten Rand vereinnahmt – und wehrt sich
BERLIN - Ein Handball-Punk kann eben nicht aus seiner Haut. Auch wenn die Haare längst nicht mehr beständig Form und Farbe wechseln, sondern seit Jahren einfach schwarz sind, die Tattoos ebenfalls in Würde altern und auch der Körper öfter zwickt („Mit 45 ist springen nicht mehr so einfach.“). Doch eine Sache steht bei Ex-Handball-Star Stefan Kretzschmar nur ganz selten still – sein großes Mundwerk. Ob er in Talkshows austeilt oder vor Schülern spricht, scheint da keinen Unterschied zu machen.
Als Berlins WM-Botschafter an diesem Montag in der Berliner FanZone in der Verti Music Hall vor Siebenund Achtjährigen sprach, den dort ausgespielten Mini-HandballWeltmeister kürte („Ausgerechnet. Wie immer in meinem Leben gratuliere ich Kroatien zum ersten Platz.“), war er direkt in Form. Dabei wusste er, dass es nicht durchgängig spaßig zugehen würde.
Zu hohe Wellen hatten seine jüngsten Äußerungen geschlagen. In einem an sich sehr differenzierten und ausführlichen Interview mit tonline.de hatte Kretszschmar an einer Stelle plötzlich gesagt: „Eine gesellschaftsoder regierungskritische Meinung darf man in diesem Land nicht mehr haben.“
Kretzschmar hatte über Sportler gesprochen, wieso es keine sogenannten Typen mehr gebe, darüber, wieso die Wenigsten sich zu politischen Themen äußern würden. In dem, was folgte, wurde dies aber schnell vergessen. „Für jeden Kommentar bekommst du eins auf die Fresse. Wenn du eine polarisierende Meinung hast, finden die 50 Prozent scheiße. [...] Es sei denn, es ist die politische Mainstream-Meinung, wo man gesagt hat ,Wir sind bunt’ und ,Refugees Welcome’, wo man gesellschaftlich nichts falsch machen kann“, hatte er noch gesagt.
Kretzschmar, der Handball-Punk, der in den 1990er-Jahren in der Berliner Hausbesetzerszene unterwegs war, dessen Kinder halbe Kolumbianer sind, der nicht nur auf dem Platz Linksaußen war – Kretzschmar plötzlich ziemlich weit rechtsaußen? Ausgerechnet er?
Unter anderem die AfD Heidelberg verbreitete seine Äußerungen via Twitter weiter. In den sozialen Netzwerken blieb vor allem der fatale Satz mit der fehlenden Meinungsfreiheit. Kretzschmar stand mitten im Shitstorm: Vom rechten Rand gab’s Applaus. Am Montag äußerte AfD-Bundestagsmitglied Jens Kestner: „Herr Kretzschmar verdient meinen Respekt, weil er öffentlich anprangert, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland beschnitten wird!“
Von Links setzte es Häme – und die Frage, ob da jemand Meinungsfreiheit mit Schutz vor Kritik verwechsle.
Um das, was Kretzschmar eigentlich mit seinem schiefen Vergleich hatte sagen wollen, ging es gar nicht mehr. Darum war er auch nicht sonderlich überrascht vom Echo der letzten Tage. „Das sagt ja genau das aus, was ich in dem Interview gesagt habe, dass, wenn man was Kritisches sagt, eine auf den Deckel bekommt. Es geht mir ja um Meinungsvielfalt und den Mut, dass man die andere Meinung akzeptiert und drüber diskutiert und nicht gleich die Keule rausholt.“
Eine Sache war ihm aber wichtig: „Dass ich politsich instrumentalisiert werde von einer Richtung, von der ich ferner nicht sein könnte, das ist tragisch und grotesk“, sagte Kretschmar, der ansonsten darauf verwies, sich bewusst „seit zehn Jahren“schon nicht mehr politisch zu äußern auf seinen Kanälen.
Der Shitstorm bestätige ihn. „Alle, die ständig die Typen-Diskussion im Sport führen, hauen dann drauf, wenn mal einer kommt. Das musste Mats Hummels schon erleben, als er seine Mannschaft kritisiert hat oder Toni Kroos mit seinem ,Danke Angie’-Post. Dafür ist er durch die Hölle gegangen und seitdem habe ich von denen nichts mehr dergleichen gehört.“Wie es zu seinen Aussagen kam, erklärte er so: „Mir wurde die Frage gestellt: ,Warum gibt es keine Typen mehr, keine Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten?’ Daraufhin habe ich geantwortet, dass ich jeden Menschen, der in der Öffentlichkeit steht, verstehen kann, wenn er sich heutzutage nicht mehr kritisch äußert und demzufolge auch nicht mehr aneckt.“
Menschen, die sich in gewissen Abhängigkeiten befänden – etwa durch Arbeitgeber oder Sponsoren – deren Freiheit, das sagen zu können, was sie wollten, sei eben beschränkt. „Jeder muss sich fragen, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, was er so für Verträge unterschreibt, weil man sich dann an gewisse Regeln halten muss. Aber diese Entscheidungsgewalt habe ich selber“, sagte er am Montag.
Der Mensch Kretzschmar selber hat diese Entscheidungen für sich längst getroffen. Und damit zurück zu den „ungefährlichen Kinderfragen“(Kretzschmar): Warum er denn nicht mehr direkt im Handball aktiv sei, wurde er gefragt? „Ich wollte aus der Mühle des Handballsports austreten – da ist man immer fremdbestimmt.“Ansonsten meinte er: „Am liebsten habe ich früher Handball gespielt, heute rede ich am liebsten darüber.“Und manchmal muss man durch den Shitstorm.
„Dass ich politisch instrumentalisiert werde von einer Richtung, von der ich ferner nicht sein könnte, das ist tragisch und grotesk.“Stefan Kretzschmar