Der Tod kommt über Nacht
15-Jähriger aus Rappertsweiler stirbt an einer Infektion mit Meningokokken B – Impfung bislang nur für Risikogruppen empfohlen
FRIEDRICHSHAFEN/TETTNANG Ohrenschmerzen, leichter Schüttelfrost, Müdigkeit: Pitt Holitsch ist am Abend angeschlagen. Das kann vorkommen im Winter. Was wie eine harmlose Erkältung daherkommt, entpuppt sich jedoch als lebensbedrohliche Krankheit. Am nächsten Nachmittag ist der 15-Jährige aus Rappertsweiler bei Tettnang tot.
Gestorben an einer Blutvergiftung infolge einer Infektion mit Meningokokken B. Bakterien, die jeder Zehnte im Nasen-Rachen-Raum trägt, ohne selbst krank zu werden. Bakterien, gegen die es einen Impfstoff gibt, den die Ständige Impfkommission (Stiko) bislang aber nur für Risikogruppen empfiehlt. Pitts Kinderund Jugendarzt Christof Metzler reicht das nicht. Der Langenargener hofft, bald alle Kinder planmäßig gegen den Erreger impfen zu können.
„Unfassbar“. Ein Wort in Pitts Todesanzeige lässt erahnen, wie groß Schock, Schmerz und Trauer in seiner Familie sein müssen. Auch wenige Wochen danach ist es für seine Eltern Evelin und Stefan Holitsch noch unfassbar, dass ihr Sohn nicht mehr lebt. Aber sie wollen seine Geschichte erzählen. Ihr Anliegen: die Bakterien, von deren Existenz sie selbst erst auf tragische Weise erfahren haben, und die Gefahren, die von Meningokokken B ausgehen können, ins allgemeine Bewusstsein zu rücken. „Mein Sohn kommt nicht mehr zurück“, sagt die Mutter und lässt ihren Tränen freien Lauf, „aber vielleicht können andere gerettet werden.“
Wer sich ansteckt, ist unklar
Meningokokken treten in unterschiedlichen Varianten auf, erklärt der Arzt Christof Metzler. Von den fünf Serogruppen A, B, C, W und Y, die in Deutschland vorkommen, verursachen Meningokokken B (60 Prozent) und Meningokokken C (30 Prozent) die meisten Krankheitsfälle. Die Übertragung erfolgt von Mensch zu Mensch per Tröpfcheninfektion beim Sprechen, Husten, Niesen oder Küssen. Zwei Drittel der Erkrankten leiden unter einer Hirnhautentzündung (Meningitis). Ein Drittel, führt Metzler weiter aus, entwickelt eine lebensgefährliche Blutvergiftung (Sepsis). Nachzulesen ist das auch auf der Internetseite der Stiko beziehungsweise des Robert-Koch-Instituts (www.rki.de).
Das höchste Risiko besteht für Säuglinge und Kinder im Alter bis vier, eine weitere Spitze ist bei 12- bis 19-Jährigen zu erkennen. Erwachsene kann es – wenn auch sehr selten – ebenfalls treffen, wie der Fall eines 56-Jährigen aus Überlingen zeigt, der Ende Januar an einer Infektion gestorben ist. Das Problem: „Warum der eine Mensch krank wird und der andere nicht, ist unklar“, sagt der Mediziner aus Langenargen. Denkbar sei, dass kurzfristige Schwächen im Immunsystem eine Rolle spielen.
Pitt Holitsch war gegen Meningokokken C geimpft – wie im StikoImpfplan seit 2006 für alle Kinder im zweiten Lebensjahr vorgesehen. Eine Impfung gegen Serogruppe B hatte er nie bekommen. Weil Daten zur Wirksamkeit fehlen und eine „sehr niedrige Krankheitslast“vorliege, ist diese bislang nur für bestimmte Risikogruppen empfohlen. Im Mittel erkranken in Deutschland jährlich 315 Menschen, davon 211 an Infektionen durch Meningokokken B. 2017 sind 27 Menschen daran gestorben.
Eine Erinnerung, die traurig macht
Ein Rückblick. Es ist Montag, 7. Januar 2019, der erste Schultag nach den Weihnachtsferien. Doch für Pitt fällt der Unterricht aus. Weil sehr viel Schnee liegt, fährt kein Bus zu seiner Schule nach Bodnegg im Landkreis Ravensburg. Die Enttäuschung des Jungen hält sich, wie es sich für einen 15-Jährigen gehört, in engen Grenzen. Er schnappt sich sein Mofa und düst ins weiße Gelände, um seine Fahrkünste zu testen, erzählt sein Vater, und die Erinnerung malt ihm ein trauriges Lächeln auf die Lippen. Unterbrochen wird der Spaß durch einen Einkauf in Friedrichshafen, „danach ist er aber gleich wieder mit seinem Mofa los. Es ging ihm gut.“
Bis auf einen leichten Druck auf den Ohren, den Pitt wohl immer wieder mal spürt. Um 16.30 Uhr stattet er deswegen in Begleitung seines Vaters, der als Kapitän der Bodenseeschiffsbetriebe Winterpause hat, dem Doktor einen Besuch ab. Christof Metzler spült seine Gehörgänge, befreit sie von überflüssigem Talg. Dass die Schmerzen bereits von Einblutungen ins Innenohr als Folge der Sepsis kommen könnten, ist für den Mediziner nicht zu erkennen.
Kaum zu Hause, steigt Pitt wieder auf sein Zweirad und besucht einen Kumpel. Als er um 19.30 Uhr zurückkehrt, geht er gleich ins Bett. 30 Minuten später steht er mit Schüttelfrost vor seinen Eltern. Ins Krankenhaus, wie von seiner Mutter vorgeschlagen, will er auf gar keinen Fall. Er glaubt, er hat sich erkältet. Und auch der Arzt vermutet am Telefon, dass ein grippaler Infekt vorliegen könnte. Pitt nimmt Stefan Holitsch zufolge eine Schmerztablette, die scheinbar hilft.
Am nächsten Morgen klingelt wie üblich der Wecker. Der 15-Jährige klagt über Gelenkschmerzen, ist nicht ganz wach, der Gang auf die Toilette verläuft wackelig. Weshalb Vater Stefan seinem Sohn rät: „Schlaf doch noch ein bisschen.“Gegen 10 Uhr steht der Sohn vor seinem Vater und zeigt ihm mehrere Blutergüsse. Um 11.30 Uhr sind die beiden wieder in der Praxis in Langenargen.
Diagnose: Blutvergiftung
Der Doktor diagnostiziert eine Blutvergiftung, verabreicht dem Jungen sofort Antibiotika gegen Meningokokken, die er stets vorrätig hat, und alarmiert den Notarzt. Seine Befürchtung, die sich am Nachmittag bestätigt: „Die Krankheit war zu dem Zeitpunkt schon so weit fortgeschritten, dass die Behandlung zu spät kam.“Stefan und Pitt Holitsch ahnen davon nichts. Der Junge antwortet, nach seinem Befinden gefragt, mehrfach mit „gut“, scherzt mit seinem Vater über die vielen blauen Flecken, die mittlerweile den ganzen Körper und auch sein Gesicht überziehen.
Wenig später fällt der 15-Jährige im Krankenwagen ins Koma, aus dem er nicht mehr erwacht. Im St.Elisabethen-Klinikum in Ravensburg verschlechtert sich sein Zustand rapide, schließlich bleibt sein Herz stehen. Das Ärzteteam reanimiert Pitt mehr als zwei Stunden lang – in der Hoffnung, dass die Medikamente anschlagen und das Blutgerinnungssystem, das die Bakterien lahmgelegt haben, wieder in Gang bringen. „Ich vermute aber, die Einblutungen waren nicht nur in der Haut, sondern auch im Kopf und vor allem im Herzmuskel, weshalb das Herz nicht mehr schlagen konnte“, sagt Christof Metzler. Um 15.30 Uhr ist Pitt tot.
Arzt drängt auf Impfung
Der Arzt ist überzeugt: Eine Impfung gegen Meningokokken B hätte den Jungen davor bewahrt, krank zu werden. Er hofft, dass die Gabe des Impfstoffs, der seit 2013 zugelassen, aber laut Stiko noch nicht ausreichend auf seine Wirksamkeit überprüft worden ist, in den regulären Impfplan aufgenommen wird. Ein eventuell nur vorübergehender Schutz sei besser als keiner. „Für uns Ärzte ist die Meningokokkeninfektion eine Horrorerkrankung, weil sie wie ein banaler grippaler Infekt mit Kopfweh, Fieber, Schüttelfrost beginnt und so rasant lebensbedrohlich verläuft“, sagt Christof Metzler, der auf seinem YouTube-Kanal „Der Kinderarzt vom Bodensee“unter anderem zeigt, warum er sich grundsätzlich für Impfungen ausspricht. Impfkritikern entgegnet er: „Eine Entscheidung gegen die Impfung ist eine Entscheidung für die Krankheit.“
Freunde, Nachbarn, Verwandte – alle, die mit Pitt kurz vor seinem Tod in Berührung gekommen sind – werden danach sofort mit Antibiotika versorgt. Niemand hat sich angesteckt. Seine Eltern und sein 17-jähriger Bruder Timo entscheiden sich zusätzlich für eine Impfung gegen Meningokokken B, um sich und andere zu schützen. Dass ihr Pitt nicht mehr zurückkommt, ist schlimm genug.