Richter spricht von Sicherungsverwahrung
Im Prozess um den Raub auf dem Poststeg kommt es auf den Gutachter an
ROTTWEIL/TUTTLINGEN - In welchem Zustand war der 31-jährige Mann, der gestanden hat, einen 95Jährigen auf dem Poststeg in Tuttlingen überfallen, beraubt und schwer verletzt zu haben an jenem 27. August 2018 morgens um 5.30 Uhr? Das war ein zentrales Thema am dritten Prozesstag vor dem Landgericht Rottweil.
Klare Beweise, ob und wie sehr der Angeklagte unter dem Einfluss von Alkohol und/oder Drogen stand, gibt es nicht, weil er erst am Tag danach gefasst werden konnte. Da stellte die Polizei einen Promillewert von 0,3 fest.
Seinen Angaben zufolge – zum großen Test schweigt er – hat der Angeklagte in der Nacht vor der Tat im Kreis von drei Bekannten etwa zwölf Flaschen Bier und eine halbe Flasche Wodka getrunken und zudem Drogen konsumiert. Dieser Darstellung widersprachen die anderen Teilnehmer der damaligen Runde am dritten Verhandlungstag als Zeugen vor Gericht, auch wenn ihre Aussagen ziemlich auseinandergingen.
Eine 24-jährige Frau beteuerte, die Runde habe sich schon nach knapp zwei Stunden wieder aufgelöst. Sie selbst habe nur antialkoholische Getränke zu sich genommen; sie verneinte jegliches Trink- oder Drogen-Gelage. Ein 37-Jähriger sagte, er sei schon nach einer halben Stunde wieder gegangen. Und der Gastgeber, der inzwischen zum DrogenEntzug in einer Klinik ist, hatte bei der Polizei erklärt, man habe „ein, zwei Näschen“Drogen konsumiert.
Psychiatrischer Sachverständiger soll Klarheit schaffen
Diesem Aspekt könnte entscheidende Bedeutung zukommen, weil es darauf ankommt, ob der mutmaßliche Täter eventuell eingeschränkt oder gar vollständig schuldunfähig ist. Wie ernst die Lage für den jungen Mann ist, deutete gestern eine Bemerkung von Karlheinz Münzer, dem Vorsitzenden Richter, an. Er erklärte, das Gericht mache sich Gedanken, ob eine Einweisung in die Psychiatrie oder gar eine Sicherungsverwahrung in Frage komme. Den Ausschlag wird letztlich der psychiatrische Sachverständige geben, der sein Gutachten am vierten Verhandlungstag am Mittwoch vortragen soll.
Die medizinische Sachverständige machte gestern deutlich, dass die lebensbedrohliche Hirnblutung beim Opfer mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Überfall zurückgehe, auch wenn sie erst vier Wochen später auftrat. Diese zeitliche Verzögerung bewege sich im Rahmen der durchschnittlichen Erfahrungswerte.
Nur untergeordnete Bedeutung, darin sind sich die Prozessbeteiligten einig, kommt der zweiten Tat zu, die dem Angeklagten vorgeworfen wird: Er soll am 25. Juli spätabends schlafenden Obdachlosen aus England in der „Edeka-Unterführung“nahe des Aesculap-Kreisels eine Bierflasche gegen den Kopf geschlagen, ihm eine Platzwunde, Prellungen und Schürfwunden zugefügt haben. Das Opfer konnte nach kurzer Zeit das Krankenhaus wieder verlassen. Die medizinische Gutachterin erklärte allerdings, ein derartiger Schlag könne auch lebensbedrohlich enden.
Wieder Verfall in alte Abhängigkeitsmuster
Am dritten Verhandlungstag am Dienstag wurde deutlich, dass der 31Jährige wohl schwer alkohol- und drogenabhängig war oder noch ist. Er wurde erst im Februar 2018 aus der Haft entlassen, verstieß dann sogleich gegen alle Bewährungsauflagen, tauchte unter und verfiel wieder in alte Abhängigkeitsmuster.
Der Bewährungshelfer listete gestern die umfangreichen Versäumnisse auf. Allerdings blieb offen bis zweifelhaft, ob er alles unternommen hat, um den 31-Jährigen wieder in die richtige Bahn zu lenken. So musste er einräumen, dass er die Familie des jungen Mannes so gut wie nicht kenne. Dessen Frau – berufsund arbeitslos wie er selbst – hatte ein viermonatiges Annäherungsverbot gegen ihren Mann erwirkt. Vor Gericht machte die Frau von ihrem Recht Gebrauch, die Aussage zu verweigern.
Der Prozess wird am heutigen Mittwoch um 9 Uhr mit dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen und den Plädoyers fortgesetzt.