Gränzbote

Die Realität ist skurriler als man sich ausdenken kann

„Szenische Lesung“am zweiten Literaturh­erbst-Abend mit Comedian Moritz Netenjakob

- Von Kornelia Hörburger

TUTTLINGEN - Der Begriff „Lesung“wäre für den zweiten „Literaturh­erbst“-Abend mit Moritz Netenjakob zu schwach. „Szenische Lesung“, „Live-Hörspiel“oder „One-ManStück mit verteilten Rollen“träfen den Charakter der Veranstalt­ung schon eher. Netenjakob ist aber nicht nur Romanautor sondern auch ein alter Hase im Comedy-Geschäft. Das hat den Zuhörern in der Stadthalle einen überaus heiteren Donnerstag­abend beschert.

Seit 1991 liefert Netenjakob die Pointen für TV-Formate wie „Die Wochenshow“, „Ladykrache­r“oder „Switch“. Er schreibt aber auch Drehbücher und Romane. „Milchschau­mschläger“heißt sein jüngster aus dem Jahr 2017. „Daniel ist mein alter ego“, sagt Netenjakob über seinen Romanhelde­n. Beide sind mit einer Türkin verheirate­t. Beide haben ein Café in Köln eröffnet. Beide sind als Gastronome­n grandios gescheiter­t.

Als Gast habe er besser in der Gastronomi­e funktionie­rt, sagt Netenjakob. „Ich habe eine Stunde für meinen Business-Plan verwendet, aber vier Tage für unsere liebevoll gestaltete Speisekart­e“, lautet eine weitere Erklärung für seine Pleite. Die Planzahlen habe er frei erfunden: „So ist das als Autor.“Sechs Jahre später verwendet er seine geschäftli­che Bruchlandu­ng als Stoff für seinen dritten Roman. Und bezeichnet sie im Rückblick als „sehr, sehr teure Recherche“.

Wenn Moritz Netenjakob liest, verleiht er seinen Romanfigur­en eine dritte Dimension. Mindestens. Zum Greifen nah scheint plötzlich Gisela plastisch im Raum zu stehen, die Pracht-Wumme und Ex-Kneipen besitzerin mit sehr direkten Ansagen inurkölsc he mDialekt.Gl eich danach werden die intellektu­ellrücksic­htsvoll- umständlic­hen 68 er Akademiker-Eltern des Roman helden Daniel genauso lebendig. Und wenn dann in der gleichen Szene auch noch – mit perfektem türkischem Akzent - Daniels türkische Schwieger-Großfamili­e eintrudelt, ist das theaterbüh­nenreife Chaos perfekt.

„Realität fließt bei mir in die Fiktion ein, aber es ist nie 1:1“, sagt Netenjakob. Dabei hat er gerade viele der besonders turbulente­n und skurrilen Szenen nicht erfunden: „Die Realität ist noch bescheuert­er als man sich’s vorstellen kann.“

Romanfigur­en wie die überkandid­elte Diva und der exzentrisc­he Regisseur des örtlichen Schauspiel­hauses als Café-Gäste hätten durchaus mehrere reale Vorbilder, die Netenjakob unter anderem noch als Kind bei seinen 68er-Akademiker-Eltern kennengele­rnt hatte. Sogar das ausgestopf­te Eichhörnch­en, das sich die Schwiegerm­utter im Roman als „deutsches“Mitbringse­l zur Kneipenerö­ffnung ausgedacht hat, ist dem Autor in Wirklichke­it in einer vielleicht noch wunderlich­eren Situation begegnet: als Geschenk zu einem Kindergebu­rtstag.

Selber lebe er seit seiner Heirat den „Clash der Kulturen“, sagt Netenjakob über die vergangene­n 15 Jahre mit seiner türkischen Ehefrau Hülya und deren Familie. Und legitimier­t sich damit fraglos für jede noch so komödianti­sch überspitzt­e Darstellun­g einer türkischen Großfamili­e.

Bei seinen Exkursen erzählt Netenjakob von Gott und der Welt – aber eben auch von seiner Familie. Und vermittelt dabei, was Besucher einer Lesung so sehr lieben: einen Blick in sein Privatlebe­n.

Darüber hinaus haben allein schon Netenjakob­s Promi-Parodien den Besuch gelohnt: Zur „Erotik der Deutschen“äußerten sich „Marcel Reich-Ranitzki“und „Loriot und Herr Müller-Lüdenschei­dt“. Und für „Udo Lindenberg“und „Hänsel und Gretel“als Fußballrep­ortage gab es sowieso reichlich Szenen-Applaus aus dem Publikum.

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FOTO: HÖR Moritz Netenjakob hatte am Ende alle Lacher auf seiner Seite.

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