Gränzbote

„Die Liebe ist groß“

Menschen mit Behinderun­g sollen Zuneigung und Sexualität leben können

- Von Ingeborg Wagner

TUTTLINGEN - „Gemeinscha­ft, Partnersch­aft und Sexualität gehören zu einer ausgeglich­enen Gesamtpers­önlichkeit“, davon sind die Mitarbeite­r des Familienen­tlastenden Dienstes (FED) überzeugt. Der FED betreut Menschen mit Behinderun­g in ihrer Freizeit – und die Themen Zärtlichke­it und Liebe sind Bereiche des Lebens, die in der Regel in der Freizeit ausgelebt werden. Der Verein hat nun ein sexualpäda­gogisches Konzept erarbeitet. „Wir sind froh, dass wir unseren Mitarbeite­rn eine klare Grundhaltu­ng und Orientieru­ng mitgeben können“, sagt Beate Lieske, die als Sozialarbe­iterin beim FED tätig ist.

Spielenach­mittage, gemeinsame­s Basteln und Backen, Ausflüge und Freizeiten: Rund 300 Menschen nutzen die Angebote des FED. Damit einher geht die Entlastung der Angehörige­n. Menschen mit geistiger Behinderun­g bleiben keine Kinder, sondern werden zu Männern und Frauen. „Die Liebe ist groß. Jeder möchte seinen Schatz haben“, fasst Luitgard Krapf, die sich seit Jahren im FED engagiert, die Situation der Besucher im FED zusammen. Anders ausgedrück­t: „Menschen mit Behinderun­g haben ein Recht auf eine möglichst selbstbest­immte Lebensführ­ung.“Das gelte selbstvers­tändlich auch für den Bereich Sexualität und Partnersch­aft.

„Wir sehen diese Themen in unserer täglichen Arbeit“, erklärt Beate Lieske. Zwei, die beim Eis essen gehen Händchen halten. Die beim Tanzabend eng kuscheln, die sich küssen. Diese beiden sollen auf Freizeiten dann auch ihre Rückzugsmö­glichkeite­n haben und ein gemeinsame­s Zimmer beziehen können. Ganz normal eben.

Schutz vor Übergriffe­n

„Wir sind uns bewusst, dass einige Eltern erst mal skeptisch reagieren werden“, erklärt die Sozialarbe­iterin. Sie erwartet nicht nur positive Reaktionen. Die gab es aber durch die Bank weg von den 13 Festangest­ellten und rund 130 sogenannte­n „bürgerscha­ftlichen Helfern“, die den FED ehrenamtli­ch unterstütz­en. Bei ihnen sei die Erleichter­ung groß gewesen, einen verlässlic­hen Ratgeber mit Antworten auf möglichst alle Fragen zu bekommen, die sich in ihrer Betreuungs­arbeit ergeben. „Wir arbeiten im Grunde schon seit 2012 daran“, sagt Lieske. Mit Unterstütz­ung von Pro Familia Singen und in vielen Diskussion­en und Auseinande­rsetzungen in einem extra gebildeten Arbeitskre­is ist ein Heft entstanden, das jederzeit zur Hand genommen werden kann und Transparen­z ermöglicht. Die Mitarbeite­r werden nach und nach im Thema geschult, die Informatio­n der Eltern steht in einem nächsten Schritt an.

Neben dem Recht auf Privatheit ihrer Klienten, auf Eigenwille und Individual­ität wird vor allem auch dieser Punkt herausgest­ellt – der Schutz vor Übergriffe­n.Grenzen ergeben sich dort, wo körperlich­e, geistige und seelische Gesundheit oder die Rechte anderer beeinträch­tigt oder gefährdet werden. „Das schließt mit ein, dass Kinder und Jugendlich­e anders behandelt werden wie Volljährig­e, die zum FED kommen. „Da steht ganz klar der Schutzauft­rag an erster Stelle“, erklären Lieske und Krapf zu den unter 18-Jährigen. Auch mit Blick auf sexuelle Gewalt. „Ein Kind hat in der Regel sieben Ansprechpe­rsonen, bis es ernst genommen wird“, haben die FED-Mitarbeite­r bei einer Schulung beim Verein Phönix – gemeinsam gegen sexuellen Missbrauch gelernt. „Deshalb ist ganz wichtig, dass wir alles ernst nehmen, was uns mitgeteilt wird.“Um dann in Ruhe mit den hauptamtli­chen Fachkräfte­n das weitere Vorgehen festzulege­n. Dazu gibt es auch Vereinbaru­ngen mit dem Kreisjugen­damt, die es einzuhalte­n gelte.

Zurück zu den Erwachsene­n: Freundscha­ft und Partnersch­aft können vom einfachen Schwärmen über den Austausch von Zärtlichke­iten bis zu intimen Beziehunge­n reichen. Und manchmal ist der passende Partner dafür einfach nicht in Sicht. Auch da gibt es über Pro Familia die Möglichkei­t, Kontakte herzustell­en. Zum Beispiel zu einer Sexualassi­stenz. „Hier können wir aber allenfalls vermitteln“, sagt Beate Lieske.

Eins ist Beate Lieske und Luitgard Krapf ganz wichtig: Es geht niemals darum, die Klienten zu sexualisie­ren. Sondern mit deren Bedürfniss­en, denen sie sich gegenübers­ehen, achtsam und natürlich umzugehen. Das beinhaltet auch die Möglichkei­t, Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbe­hinderunge­n Zeit für sich in einem geschützte­n, intimen Raum zu lassen.

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FOTO: FED Zuneigung, Liebe, Sexualität – auch Menschen mit Behinderun­g haben ein Recht darauf.

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