Frau Doktor ist für alle Fälle da
Ein Tag im Leben der Landärztin Beate Bürger aus Vogt – Von Menschen wie ihr hängt die gesundheitliche Versorgung außerhalb großer Städte ab
VOGT
- Das Wetter ist trist, in spätherbstlicher Atmosphäre wirkt die Hügellandschaft mit ihren Fichtenwäldchen bei Vogt ebenso düster. Der Blick ins Krankenzimmer eines abgelegenen Hofes hier am Rand des württembergischen Allgäus dient noch weniger dazu, die Stimmung zu heben. Eine sehr alte, pflegebedürftige Frau liegt im Bett und erinnert einen stark an die eigene Vergänglichkeit. Die Geschichte könnte nun so deprimierend weitergehen – wenn nicht Beate Bürger munter und voller Elan durch die Tür treten würde. Eine Frau in Jeans und Sweatshirt, den Arztkoffer in der Hand. „Na, wie geht es denn heute?“, flötet sie in den karg eingerichteten Raum. Es folgt ein Lob an die Tochter der Seniorin. Wie gut sich diese doch um ihre Mutter kümmern würde.
Beate Bürger macht ihren Job. Die 52-jährige Allgemeinmedizinerin ist Landärztin. Hausbesuche gehören wie eh und je zu ihrem Alltag – selbst wenn ein derartiger Service anderswo eher selten geworden ist, etwa für Ärzte in Städten mit meist gut ausgebauter Infrastruktur zur Patientenversorgung. Wobei „selten“in diesem Zusammenhang das entscheidende Stichwort ist. Mediziner wie Beate Bürger laufen nämlich auch Gefahr, rar zu werden. Ihrem Berufsstand droht fast schon ein Schicksal wie weiland den Dorfschmieden oder -wagnern. Vielleicht wird man sich in einigen Jahren an den Arzt in der Praxis auf dem Land nur noch wehmütig erinnern: „Weißt du noch damals, der Doktor Huber? Selbst am Sonntag oder nachts ist er noch zu seinen Patienten gekommen.“
Nicht umsonst wird seit Jahren von Politikern, Ärzteverbänden oder Krankenkassen Alarm geschlagen. Draußen auf dem Land fehlt der Medizinernachwuchs. Gleichzeitig spitzt sich das Problem altershalber zu. Baden-Württembergs Sozialministerium meldet: „Nach den uns zuletzt bekannten Zahlen sind 36 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte im Land über 60 Jahre alt.“Das sind rund 2500 Mediziner. Ihr Ruhestand ist nahe. Aus den knapp werdenden Allgemeinmedizinern rekrutieren sich aber auch die besagten Landärzte. Sie werden so genannt, weil ihre Praxen abseits von Ballungszentren oder größeren Städten liegen. Bei Beate Bürger ist es Vogt, eine beschaulich wirkende Gemeinde im Landkreis Ravensburg mit 4600 Einwohnern. Bereits ihr Großvater betrieb dort ab 1951 eine
Praxis, die der Vater übernahm. Beate
Bürger machte nach dem Studium weiter – zusammen mit ihrem Mann Hans Bürger, Facharzt für Innere und Allgemeine Medizin sowie Vorstandsmitglied der Ärzteschaft im Kreis Ravensburg. 1996 haben die beiden begonnen. Der Weg zu ihnen führt in einen der jüngeren Ortsteile von Vogt. Es ist Donnerstag, Sprechstunde. Der Praxisalltag beginnt morgens um acht Uhr. Beate Bürger sitzt in ihrem Behandlungszimmer, einem Raum, wie man ihn oft in Praxen sieht: einige Schränkchen und Regale mit Fachbüchern, Arznei-Vitrinen, ein Poster über die Gefahr von Kinderkrankheiten, Organmodelle aus Kunststoff, Topfpflanzen, Liege und Waschbecken. An den Wänden hängen einige Bilder von Fernreisen – etwa die Langhalsfrauen von Nordthailand. Zwei Fotos auf dem Schreibtisch zeigen Beate Bürgers Tochter und den Sohn, aktuell auch schon Medizinstudenten.
Die erste Patientin wird von einer Praxishelferin in den Raum geführt. Vom Alter her dürfte die beleibtere Dame auf die 70 zugehen. „Sie wissen ja, Frau Doktor, ich komme wegen des Zuckers“, lauten ihre ersten Worte. Der Blutdruck müsse gemessen werden, glaubt sie. Bürger lächelt – wie so oft an diesem Tag. Es folgt ein bisschen Smalltalk. „Wie geht es Ihrem Mann“?, erkundigt sich die Ärztin. Ob sich denn die Patientin allgemein gut fühle? Letztlich ist der Blutdruck noch im grünen Bereich. Die Patientin bekommt noch eine andere Dosierung von Tabletten verschrieben. Schnell ist eine Viertelstunde vergangen. Der Nächste kommt, ein sportlich wirkender Mann, der einem etwas jüngeren Jahrgang angehört. „Das Knie schmerzt“, klagt er. Beate Bürger kennt den Patienten gut, flachst: Niemand werde jünger. Sie tastet am Knie. Ihre Diagnose: „Das ist das Innenband.“Schließlich empfiehlt sie, er soll doch besser nochmals mit seinem Orthopäden reden.
Inzwischen hat sich das Wartezimmer gefüllt. Ihre Patienten sitzen darin, ebenso die ihres Mannes. Hände blättern in abgegriffenen Zeitschriften. Der eine oder andere Huster ist zu hören. Eine leicht fiebrige Atmosphäre dominiert den Raum. Der Spätherbst ist traditionell die Zeit der ersten Erkältungswelle. Rote, triefende Nasen warten. Für Beate Bürger heißt dies: Lunge abhören, Nasentropfen und Hustenmittel empfehlen. Routine, vielleicht sogar öde Routine. Reformer aus dem Gesundheitsbereich überlegen deshalb, ob solche Tätigkeiten nicht auch von qualifizierten Helfern gemacht werden könnten. So wäre eine Entlastung des Arztes möglich. Mehr Raum für tief greifendere Medizin, lautet die Devise. Es geht bei solchen Ideen darum, dem Ansehen des Allgemeinarztes nachzuhelfen. „Bei manchen Leuten liegt unser Image tatsächlich zwischen Halsweh- und Fußpilzbehandlung“, klagt Beate Bürger.
Ein größeres Renommee genießen wohl wirklich andere – Chefchirurgen
an Uni-Kliniken etwa, Helden des Messers im OP, die berühmten Halbgötter in Weiß. Sie verdienen auch besser und haben geregeltere Arbeitszeiten ohne Hausbesuche. Dafür steht ein Landarzt mitten im Leben. Zum Wohl seiner Patienten sollte ihm nichts fremd sein: keine Krankheiten, keine Gebrechen, keine menschlichen Regungen. „Hier bei uns“, sagt Beate Bürger, „begleiten wir Patienten durch Jahrzehnte ihres
Lebens.“Und das oft auch sehr intim. Auch Familiengeschichten kommen in der Sprechstunde zur Sprache: Wer mit wem gegen wen und Ähnliches. Die Ärztin ist nicht selten auch eine Art Seelsorgerin. Sie blickt bei Hausbesuchen hinter Mauern wie sonst kaum ein Außenstehender. Da muss man wohl schon sehr gut mit Menschen umgehen können. „Ja“, bestätigt Beate Bürger. Die Sozialkompetenz sollte hoch sein. Aber gerade diese Umstände ziehen sie an: „Ich liebe deshalb meine Arbeit. Wegen des Geldes macht man den Job nicht.“
In Wartepausen, wenn gerade kein Patient kommt, greift Frau Doktor manchmal zum Strickzeug. „Nichtstun mag ich nicht“, kommentiert sie die Handarbeit, bei der meist Socken entstehen. „Die bekommen dann meine Patienten“, sagt Beate Bürger. Was tatsächlich nach einem familiären Miteinander klingt. Die Ärztin hat auch außerhalb ihrer Praxis einen festen Platz in der Gemeinde. Beate Bürger betreut eine Herzsportgruppe. Sie ist Vizedirigentin im Gesangsverein. Klavierstunden stehen ebenso auf dem Freizeitprogramm.
Weit weg scheinen dagegen die fast schon unzähligen Freizeitangebote ihrer Studienorte Tübingen, Freiburg und Wien. Laut Umfragen unter Medizinstudenten ist die vermeintliche Langeweile in der tiefen Provinz einer der Gründe, weshalb der Landarztposten für Nachwuchsärzte wenig attraktiv erscheint. Im Hause Bürger wird dazu der Fall eines Kandidaten kolportiert, dessen erste Frage war, wie weit denn der nächste Golfplatz entfernt sei. Solche Infrastruktursorgen plagen Beate Bürger nicht. Aber es gibt dennoch einen speziellen Schwachpunkt, der für sie – wie für viele andere, die auf dem Land leben –, ein stetes Ärgernis ist: „Uns fehlt ein brauchbares Internet. Da kann das Übertragen von PatientenUnterlagen schon mal abenteuerlich werden.“
Solche immer mal wieder auftretenden Mängel dienen natürlich kaum dazu, den Ruf der Provinz zu verbessern und junge Ärzte anzulocken. Als bedenklich werden zudem von Berufsanfängern eine überbordende medizinische Bürokratie und die ländliche Praxenstruktur eingestuft. Als klassische Berufssituation gilt bisher ein Landarzt, der als Einzelunternehmer im Dorf sitzt – also Herr in seinen Räumen ist. Folglich bleibt an ihm die betriebswirtschaftliche Verantwortung hängen – und eben der Schreibkram, etwa die als ausufernd empfundene Dokumentationspflicht von Behandlungen. Der Gesetzgeber hat über die Jahre hinweg immer mehr schriftliche Nachweise verlangt. Angehende Mediziner wollen jedoch tendenziell Bürokratie wie Unternehmertum meiden. Jedenfalls besagen dies Studien von Kassenärztlicher Vereinigung sowie Hausärzteverband. Ein komfortables AngestelltenVerhältnis in einem der neuen Gesundheitszentren erscheint Jungärzten wohl als attraktiver. Solche Einrichtungen haben aber jenseits größerer Städte noch Seltenheitscharakter.
Um letztlich doch noch Bewegung in die verfahrene Situation zu bringen, ist die Idee einer Landarztquote entstanden. Abiturienten ohne Bestnoten sollen trotzdem Medizin studieren können, wenn sie sich verpflichten, danach für eine gewisse Zeit aufs Land zu ziehen. Baden-Württembergs CDU verficht solche Ideen. Beate Bürger ist skeptisch: „Ob so etwas auf Anordnung funktioniert? Das Landarzt-Dasein hat schon etwas mit einer persönlichen Berufung zu tun.“Und eben mit einem ganz spezifischen Alltag. Nach dem Ende der Sprechstunde gegen Mittag macht sich Beate Bürger im nahen Eigenheim etwas zu essen, bearbeitet noch Praxisunterlagen. Danach holt sie den roten SUV aus der Garage. In diesem Fall geht es nicht um besondere Allüren, sondern ums Wetter: An manchen Wintertagen wäre mancher Weiler und mancher Hof ohne Allradantrieb wohl unerreichbar. Schlecht, wenn Hausbesuche anstehen.
An diesem Donnerstagnachmittag sind es sieben Patienten, die daheim warten. Die letzte Frau, auch eine Seniorin, hat offene Beine. Beate Bürger wechselt den eiterdurchtränkten Verband und macht Mut: „Im Vergleich zum letzten Mal ist es doch schon besser. Das bekommen wir hin.“Ein herzlicher Abschied folgt. Und nun? Endlich heim? Feierabend? „Nein“, betont die Ärztin. „Jetzt ist Abendsprechstunde bis sieben Uhr.“Nochmals verschnupfte Menschen, wieder Blutdruckmessen oder Abtasten, vielleicht noch Ultraschall, erneut Patienten gut zureden. Mal ehrlich, wird einem das nicht irgendwann zu viel? „Nein, eigentlich nicht. Jeder Patient ist anders. Langweile gibt es nicht“, meint Beate Bürger. Aber mal eine Auszeit? „Na ja, schon, ein Urlaub – und den möglichst weit weg.“
„Bei manchen Leuten liegt unser Image zwischen Halsweh- und Fußpilzbehandlung.“
Beate Bürger
„Das Landarzt-Dasein hat schon etwas mit einer persönlichen Berufung zu tun.“
Beate Bürger