Springen wie vor fünf Russen
Karl Geiger ruht vor dem Auftaktspringen der Vierschanzentournee in sich
OBERSTDORF - Mit Karl Geiger in diesen letzten Tagen des Jahres 2019 ist es so: Es gilt das gesprochene Wort. Zum Beispiel, wenn der 26Jährige – seit jeher für den SC Oberstdorf skispringend – über den Vor- respektive Nachteil dozieren soll, den so ein Vierschanzentournee-Auftakt in der Heimat mit sich bringt. Trägt er? Drückt er? Karl Geiger, in Deutschlands südlichster Gemeinde geboren, aufgewachsen und lebend, von der Schattenbergschanze bislang jedoch bestenfalls bedingt verwöhnt, antwortet: „Es ist toll, vor heimischem Publikum zu springen, es gibt viel zurück. Aber im Endeffekt gilt’s trotzdem, einfach nur skizuspringen.“Theorie und Praxis? Sind eins bei Karl Geiger im späten Dezember 2019. Er ist gereift. Als Sportler, als Mensch. 25 500 Anfeuernde sind ihm nicht Hemmnis, nicht Übermotivation. „Sie sind ein Privileg.“Keines, das Karl Geigers Fokus stört.
Das Oberstdorfer-Sein blendet Karl Geiger in Oberstdorf aus
Die Tournee – seine achte – beginnt Karl Geiger als Gesamtweltcup-Dritter. Siebter, Siebter, Zweiter, Sechster, Fünfter, Dritter, Vierter liest sich seine Saison in Platzierungen, erreicht mitunter bei schwierigsten Bedingungen. Null Ausschläge nach unten. Was das heißt für Oberstdorf (Qualifikation Samstag, 16.30 Uhr; Wertungsspringen Sonntag, 17.30 Uhr/jeweils ARD und Eurosport), Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen? „Springen muss man immer noch“, weiß Karl Geiger. Doch weiß er auch: Er hat zwei Flugbegleiter – eine so nie erlebte Konstanz und ein trotz seines GeerdetSeins intaktes Selbstvertrauen. Körper und Kopf sind auf Kurs, der Sportler ruht in sich, sagt es nicht nur. Das könnte die Basis sein für Großes.
Die Basis dieser Basis legte Karl Geiger mit Stefan Horngacher. WMZweiter von der Großschanze und doppelt (Team, Mixed Team) mit Mannschaftsgold dekoriert war der Allgäuer, als der Tiroler Anfang April das Bundestrainer-Amt übernahm. Ansatz der gemeinsamen Arbeit war es, Karl Geigers Trainingsniveau zu erhöhen, Schwankungen zu reduzieren. Stefan Horngacher: „Weil: Er ist eigentlich ein sehr wettkampfstarker Athlet.“Verbessert so einer seine Sprünge im Training …
Karl Geiger verbesserte sie tatsächlich auch im Ernstfall – Lohn akribischen Feilens an der Anfahrtshocke, für einen so absprungkräftigen Springer eminent wichtig. Mehr und mehr passte auch der Instinkt für den Druckpunkt, die
Qualität, alle Geschwindigkeit aus der Spur an der Schanzentischkante im idealen Moment in Energie umzuwandeln. Dann die Streckbewegung: Was machen Beine, Oberkörper, Arme? Schließlich „die Verbindung in den Flug rein, dass der Flug richtig schnell wird. Das hat Karl im Winter noch nicht gezeigt“, sagt Stefan
Horngacher lächelnd. Sehr wohl aber im Herbst. Im Training. Noch einmal der Bundestrainer: „Das kann man nicht rauspressen, das passiert.“Womöglich in Oberstdorf. Bundestrainer Stefan Horngacher ist überzeugt: bald.
Druck erzeugt solch eine Prognose, erzeugt die kollektive Hoffnung (s)eines Ortes nicht bei Karl Geiger. Vor zwölf Monaten ist er die Vierschanzentournee unter ähnlichen Voraussetzungen angegangen, kam daheim auf Rang zwölf, war im Endklassement Elfter. Vieles ist seither passiert. WM-Edelmetall aus Seefeld etwa garantiert keine bessere Tournee 2019/20, erspart keinen Tropfen Schweiß, nimmt kein bisschen gesunden Ehrgeiz. Macht
Skisprung-Bundestrainer Stefan Horngacher aber gelassener. Zumal die Richtung passt. In Stefan Horngachers Worten: „Druck macht man sich immer nur selbst. Da haben wir das geringste Problem. Wir wissen genau, was wir tun. Wir haben einen Plan, wie wir skispringen.“
Karl Geiger, der Karl Geiger in diesen letzten Tagen des Jahres 2019, hat große Teile des Plans schon Weite werden lassen. 1819,5 Meter kamen bei den ersten 14 Wettkampf-Luftfahrten des Winters für ihn zusammen, allein der Österreicher Stefan Kraft (1823,5 Meter) landete, virtuell addiert, später. Das ist stark, doch egal mit dem ersten Abstoßen am Fuß des Schattenbergs. Dann gilt die Tat – das gesprochene Wort. Karl Geiger, dem in Oberstdorf so sehr Verwurzelten, gebührt das letzte: „Ob ich meine Sprünge vor fünf Russen zeig’ oder vor 25 Deutschen: Der Kernpunkt bleibt der gleiche.“
Die Tournee kann beginnen!
„Das kann man nicht rauspressen, das passiert.“