Tuttlinger setzt Gegner blind schachmatt
Rudolf Dalmann spielt im Schachclub Möhringen Turniere – ohne Hilfsmittel und Extrawürste
TUTTLINGEN - „Noch fünf Minuten. Dann mach ich das Licht aus“, ruft die Wirtin den Spielern des Möhringer Schachclubs zu. „Sie können es auch schon jetzt ausschalten“, erwidert Rudolf Dalmann. „Ich spiele trotzdem weiter.“Dalmann lacht, als er sich an jenen Abend zurückerinnert. Der 65-Jährige ist blind. Und doch kann er schwarz und weiß sehr gut unterscheiden. Das Schachbrett trage er eben in seinem Kopf, sagt Dalmann.
Er vergleicht es mit einem Fotoalbum: „Von jedem Zug speichere ich im Kopf ein Bild ab. Habe ich einen Zug vergessen, blättere ich einfach zurück.“Aussetzer habe er eigentlich nie. Vielmehr brennen sich die Spielzüge in sein Gedächtnis ein.
„Einmal habe ich einen alten Gegner wiedergetroffen. Ich erkannte ihn sofort an der Stimme“, erzählt Dalmann. Sechs Jahre waren da seit dem ersten Treffen vergangen. Auch der Gegner konnte sich gut an Dalmann erinnern: Die erste Partie hatte der Mann verloren und sich jeden einzelnen Zug notiert. „Er rief seine Tochter an, um ihm die Notizen mit den Zügen aus dem ersten Spiel zu bringen. Er musste sie nicht vorlesen. Ich Zug abrufen.“, sagt Dalmann. Er hat sich das alles hart antrainiert.
Dalmann wird 1954 in Russland geboren. Als er fünf Jahre alt ist, bekommt er Kinderlähmung. Die Ärzte verpassen ihm hochdosiert Antibiotikum. „Sonst wäre es mit dem Leben vorbei gewesen“, sagt Dalmann. Die Folgen durch die Medikation sind das kleinere Übel: Seine Netzhaut trocknet aus. Langsam verlieren seine Augen an Sehkraft. 1997 ist plötzlich alles dunkel. „Da bin ich morgens aufgewacht und dachte, meine Verwandten hätten vergessen, die Rollläden hochzuziehen.“Das habe sich wie ein Schlag auf den Schädel angefühlt, sagt Dalmann. Er zieht nach Tuttlingen. Seine Geschwister und auch die Eltern leben schon einige Zeit in der Stadt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden sie eingebürgert.
1999 tritt er in den Schachclub
Möhringen ein. Da kann er schon zwei Jahre nichts mehr sehen, hat 25 Jahre kein Schach gespielt. „Ich war bei meiner Schwester zu Besuch. Mein Schwager und der Neffe haben Schach gespielt. Der Junge sagte nur: Schade, dass du nicht mitspielen kannst.“Zurück zuhause kramt Dalmann sein altes Schachbrett hervor. Er tastet die Figuren ab, stellt sie im Kopf auf und spielt gegen sich selbst. Drei bis vier Monate geht das so. Bis ihn ein Bekannter zum Training
des Möhringer Schachclubs mitnimmt.
Anfangs seien die Spiele noch eher frustrierend gewesen. Gerade auch auf Turnieren. „Immer wenn ich verloren hatte, sagte ich mir, dass es das letzte Spiel war.“Eine Nacht später habe er diese Entscheidung aber immer wieder verworfen, sagt Dalmann. „Es würde mir fehlen. Ich hab ja sonst kein Hobby. So komme ich unter Menschen, kann zu Turnieren fahren.“Dalmann ist auf
Orts- und Stadtmeisterschaften im Süden unterwegs.
Ohne Extrawürste. Er spielt nur gegen sehende Gegner. Wie alle anderen darf er nicht länger als zwei Stunden über seine Züge grübeln. Er spielt ohne Hilfsmittel. Es gibt zwar Bretter, auf denen die schwarzen Felder etwas angehoben und die Figuren mit kleinen Nadelköpfen markiert sind. Aber das würde Dalmann nicht viel nutzen: „Durch die Kinderlähmung sind meine Fingerspitzen taub, ich könnte gar nicht so genau fühlen“, sagt er.
Stütze seien für ihn vor allem Familie und Freunde. Allen voran: Seine Frau. 2004 lernen sie sich über eine Bekannte kennen. „Es war Liebe auf den ersten Ton“, scherzt Dalmann. Zwar sei er ständig auf seine Frau oder Freunde angewiesen als Begleitung. Unglücklich sei er damit aber nicht. Selbst wenn ein Wunder geschehen, sich die Zeit zurückdrehen und die Krankheit nicht ausbrechen würde, solle alles so bleiben, wie es ist. „Ich möchte nicht mehr zurücktauschen.“
Niederlagen auf Turnieren nimmt Dalmann auch nicht mehr mit ins Bett. „Mein Ziel ist immer, 50 Prozent der Spiele zu gewinnen. Mal schaff ich mehr, mal weniger.“Trotz fotografischen Gedächtnisses lerne er nie aus. „Es gibt Millionen verschiedene Varianten, jedes Spiel verläuft anders.“
Spielten alle unter seinen Bedingungen, läge Dalmanns Gewinnquote wohl deutlich höher. „Im Verein versuchen es die anderen immer mal wieder ohne Brett zu spielen. Die anderen bewegen dann die Figuren für uns.“Bisher habe ihn aber noch keiner geschlagen.