„Europa muss sich bewegen“
Entwicklungsminister Gerd Müller kritisiert das Einstimmigkeitsprinzip in der EU und lobt den französischen Präsidenten
MÜNCHEN - Die Europäer müssen nach Ansicht von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller in der Verteidigungspolitik enger zusammenarbeiten. Allein militärisch ließen sich die Konflikte in der Welt aber nicht lösen, betont der CSU-Politiker im Gespräch mit Claudia Kling.
Herr Müller, die Münchner Sicherheitskonferenz ist in diesem Jahr geprägt von dem Begriff „Westlessness“, der für den Bedeutungsverlust der westlichen Welt und ihrer Werte steht. Ist das ein gutes Motto für diese Veranstaltung?
Anstatt uns mit der „Schwäche“des Westens zu beschäftigen, sollten wir überlegen, wie ein mutiger Aufbruch in Europa gelingen könnte. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat in seinem Beitrag die Linien vorgezeichnet: Die Europäer müssen in der Verteidigungspolitik stärker zusammenarbeiten und Synergieeffekte erzielen. Das gilt auch für einen vernetzten Ansatz von Sicherheitsund Entwicklungspolitik. Europa muss sich bewegen. Wenn es nicht anders geht, dann in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
Woher rührt denn die Schwäche der Europäer?
Die Zusammenarbeit in Sicherheitsund Verteidigungsfragen funktioniert noch nicht ausreichend, und in der Außenpolitik lähmt uns das Einstimmigkeitsprinzip. Deshalb spielen wir als Akteur in der internationalen Konfliktbewältigung keine ernsthafte Rolle. Wir müssen in der Außenpolitik dringend zu Mehrheitsentscheidungen kommen, so wie es Macron vorgeschlagen hat. Und wenn sich die 27 nicht einigen können, muss die verstärkte Kooperation von sieben oder zehn Ländern das Ziel sein. Ich bin mir sicher: Wenn Frankreich und Deutschland vorangehen, werden andere folgen. Die Langsamsten im Zug dürfen nicht dringend notwendige Entscheidungen blockieren.
Vor einigen Wochen ist Deutschland vorausgegangen, als Kanzlerin Merkel zum Libyen-Gipfel nach Berlin eingeladen hat. Passiert ist
seither wenig. Wird die Sicherheitskonferenz einen Fortschritt bringen?
Es war ein Erfolg, dass der UN-Sicherheitsrat, in dem auch die Chinesen und Russen mit am Tisch sitzen, die Berliner Ergebnisse bestätigt hat. Enttäuschend ist allerdings, dass die Waffenlieferungen nach Libyen bislang nicht unterbunden werden konnten. Es fehlt an Kontrollen und Sanktionen. Als Entwicklungsminister ist für mich aber ein weiterer Aspekt wichtig: Wir brauchen schnellstmöglich eine humanitäre, zivile Mission der UN zur Auflösung der Flüchtlingsgefängnisse in Libyen. Das ist das Minimum an Menschlichkeit, auf das wir uns verständigen müssen.
Auch in Syrien hat das Flüchtlingsthema wieder an Bedeutung gewonnen. Dort sind rund eine Million Menschen aus Idlib auf der Flucht. Ist das hier ein Thema?
Ich finde die Situation schockierend. Leider war dies kein zentrales Thema der Konferenz. Eine Million Menschen mussten in den letzten Wochen fliehen – ausgelöst durch die
Bombardierung von Krankenhäusern, Schulen und der Zivilbevölkerung. Zugleich wurde die Versorgung der notleidenden Menschen über humanitäre Hilfswege eingeschränkt. Das ist eine riesige humanitäre Katastrophe, drei Flugstunden von Europa entfernt. In den Flüchtlingscamps wird gestorben, und der Hilferuf der Flüchtlinge an der türkischen Grenze verhallt ungehört. Wir machen uns mitschuldig, wenn wir jetzt nichts unternehmen.
Wird in München zu viel über politische Konfliktlinien und zu wenig über die Ursachen von Konflikten gesprochen?
Die Konferenz ist eine Sicherheitskonferenz, auf der sich hauptsächlich Verteidigungspolitiker treffen. Als solches ist sie wertvoll und gut – in der Praxis zeigen sich aber viele weitere Herausforderungen. Die Ursachen für Kriege und Konflikte sind oft Hunger, Not und Perspektivlosigkeit. Militärisch werden wir diese Probleme nicht in den Griff bekommen. Wir brauchen vielmehr einen vernetzten Ansatz von Entwicklungsund Sicherheitspolitik. Vor zwei Wochen habe ich in Nigeria mit ehemaligen Boko-Haram-Kämpfern gesprochen. Die jungen Männer haben sich den Terroristen angeschlossen, weil sie ihnen einen Dollar am Tag, Essen und ein Gewehr geben. Das zeigt: Nur wenn wir etwas gegen die Armut und Perspektivlosigkeit unternehmen, können wir Radikalisierung, Terror begegnen und die Konfliktursachen beseitigen. Ansonsten werden wir künftig mit noch größeren Konflikten konfrontiert werden – und mit neuen Fluchtbewegungen.