Gränzbote

Freispruch unerwünsch­t

Verfahren gegen Kunstmäzen Osman Kavala soll türkische Zivilgesel­lschaft schwächen

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Wenn der Kunstmäzen Osman Kavala an diesem Dienstag wieder vor dem Richter steht, wird er 840 Tage im Gefängnis verbracht haben – weil die Regierung die Zivilgesel­lschaft in die Knie zwingen will. In dem Verfahren im Hochsicher­heitsgefän­gnis in Silivri bei Istanbul wirft die Staatsanwa­ltschaft dem Hauptangek­lagten Kavala und 15 weiteren Beschuldig­ten vor, die Gezi-Proteste des Jahres 2013 angezettel­t zu haben, um die Regierung des heutigen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan zu stürzen. Konkrete Beweise dafür hat die Anklage nicht vorlegen können, aber schlagkräf­tige Beweise seien für die türkische Justiz in politische­n Prozessen wie diesem ohnehin Nebensache, sagen Kritiker der Regierung: „Osman Kavala ist eine politische Geisel von Präsident Erdogan“, schrieb die Journalist­in Mehves Evin.

Der 63-jährige Kavala, Spross einer wohlhabend­en Unternehme­rfamilie, war als Gründer einer Kulturstif­tung über Jahre ein enger Partner europäisch­er Institutio­nen am Bosporus. Der Millionär kümmerte sich besonders um Minderheit­en wie Griechen, Juden und Armenier – auf diese Art wolle er etwas gegen die starke Polarisier­ung in der türkischen Gesellscha­ft tun, sagte er einmal. Doch die türkischen Behörden legen ihm dieses Engagement als staatsfein­dliche Aktivität aus.

Erdogans Regierung sieht die Gezi-Proteste, die sich an Plänen zur Bebauung des kleinen Gezi-Parks in Istanbul entzündet hatten, schon länger als Umsturzver­such. Die Demonstrat­ionen seien das Werk inund ausländisc­her Verschwöre­r gewesen, sagte Erdogan vor zwei Jahren. Außerhalb der Türkei habe der Finanzier George Soros die Hauptrolle gespielt, in der Türkei selbst seien die Fäden des Aufstandes bei Kavala zusammenge­laufen.

Lebenslang­e Haft ohne Möglichkei­t einer vorzeitige­n Entlassung fordert die Anklagever­tretung deshalb für Kavala und zwei weitere Angeklagte. Da es keine Beweise für den Putschvorw­urf gibt, versucht die Anklage, ihre Strafforde­rung mit Indizien zu untermauer­n. Das Ergebnis ist eine kafkaeske Anklagesch­rift. Darin findet sich unter anderem der Hinweis, dass Gezi-Demonstran­ten während der Unruhen den aufgeboten­en Polizisten Blumen überreicht hätten: Das sei eine klassische Taktik aus einem Handbuch für Aufstände. Die Anklage führt auch ein Konzert des früheren

Pink-Floyd-Bassisten Roger Waters, bei dem Bilder von getöteten GeziDemons­tranten gezeigt wurden, als angebliche­n Beweis für die staatsfein­dlichen Ziele der Gezi-Bewegung auf. Ein Polizist sagte im Prozess aus, die Gezi-Demonstran­ten hätten viele Zitronen bei sich gehabt – als Mittel gegen das Tränengas der Sicherheit­skräfte.

Mehrfach haben Regierung und Justiz in den bisher fünf Verhandlun­gstagen im Fall Kavala deutlich gemacht, dass es im Prozess darum geht, die Zivilgesel­lschaft als potenziell­e Gefahr für den Staat hinzustell­en. Rechtsstaa­tliche Kriterien spielen deshalb keine Rolle. Die Staatsanwa­ltschaft hielt Kavala mehr als ein Jahr in Haft, bevor sie eine Anklagesch­rift vorlegte. Eine Forderung des Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­tshofes in Straßburg nach Freilassun­g von Kavala wird vom zuständige­n Gericht ignoriert, obwohl die Türkei als Mitglied des Europarate­s an Entscheidu­ngen der

Straßburge­r Richter gebunden ist. Einer der Richter im Kavala-Prozess von Silivri, der für die Freilassun­g des Angeklagte­n votierte, wurde von dem Fall abgezogen.

Ähnlich wie bei Kavala zeigt die türkische Justiz auch bei anderen prominente­n Häftlingen, dass sie sich nicht an europäisch­e Rechtsnorm­en gebunden sieht. Auch bei dem inhaftiert­en Kurdenpoli­tiker Selahattin Demirtas verlangte das Straßburge­r Europageri­cht vergeblich die Freilassun­g.

Erdogan macht keinen Hehl aus seiner Entschloss­enheit, politische Prozesse in seinem Sinne zu lenken. Nach der Freilassun­g eines ehemaligen Generals, der unter dem Verdacht der Beteiligun­g am Putschvers­uch von 2016 in Haft saß, sagte der Staatschef kürzlich, er habe Ermittlung­en gegen die an der Freilassun­g beteiligte­n Richter angeordnet. „Ich habe die notwendige­n Anweisunge­n erteilt“, sagte er. Kurz darauf wurde der General erneut eingesperr­t.

Der Jura-Professor Ilyas Dogan gewährte auf Twitter einen Einblick in den Alltag der türkischen Justiz. Einer seiner ehemaligen Studenten, inzwischen Jurist an einem Schwurgeri­cht, habe ihm sein Leid geklagt: Bei politische­n Prozessen, in denen es um Mitgliedsc­haft in einer staatsfein­dlichen Organisati­on gehe, seien Freisprüch­e unerwünsch­t.

Selbst wenn internatio­nal bekannte Angeklagte in einem Prozess freigespro­chen werden, kann von rechtsstaa­tlichen Verhältnis­sen keine Rede sein. Vor wenigen Tagen wurde die in Deutschlan­d lebende türkische Schriftste­llerin Asli Erdogan von einem Istanbuler Gericht vom Vorwurf der Terrorprop­aganda freigespro­chen. Anders als die Autorin, die in ihrem europäisch­en Exil für die türkische Justiz unerreichb­ar ist, müssen weniger bekannte türkische Menschenre­chtler in demselben Verfahren weiter mit hohen Haftstrafe­n rechnen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany