Gränzbote

Nostalgie und Patriotism­us

Warum ist die Krim für so viele Menschen russisch? Eine Perspektiv­e aus Sewastopol

- Von Varvara Podrugina

MOSKAU - Die Higher School of Economics gilt als eine der freiesten Universitä­ten in Russland. Viele ihrer Studenten protestier­en offen gegen Innen- und Außenpolit­ik der russischen Regierung. Auch Andrej S., der hier Politikwis­senschafte­n studiert, und der seinen vollen Namen nicht nennen will, sieht Russlands politische­s System in vielen Punkten kritisch. Ausgerechn­et eine der internatio­nal umstritten­sten Aktionen von Russlands Präsident Wladimir Putin unterstütz­t er aber voll und ganz – den Anschluss der Halbinsel Krim an Russland.

Andrej wurde in Sewastopol geboren. Die Stadt liegt auf der Halbinsel, die nach Verständni­s der meisten Staaten einschließ­lich Deutschlan­ds Teil der Ukraine ist. Entscheide­nd aus Andrejs Sicht ist das Recht der Menschen zu bestimmen, in welchem Staat sie leben wollen. „Persönlich habe ich in Russland viel mehr Bildungs- und Berufsmögl­ichkeiten bekommen, als ich in der Ukraine hatte“, fügt er hinzu.

Das offiziell verkündete Ergebnis des Referendum­s vom 16. März 2014 war eindeutig: 96,5 Prozent der Wählenden sprachen sich dafür aus, dass die Krim Teil des russischen Staates werden soll. Andrej S. hatte selbst nicht abgestimmt, weil er zu diesem Zeitpunkt nicht auf der Krim war, an den offizielle­n Zahlen hegt er aber keine Zweifel. „Das Ergebnis war für mich und für alle, die die Krim wirklich kennen, sofort klar“, erzählt Andrej. Die Menschen auf der Krim wollten aufrichtig ein Teil Russlands sein.

Der Vollzug dieser Entscheidu­ng hat die territoria­le Integrität der Ukraine verletzt – ein Prinzip, das in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist. Doch in der Charta festgehalt­en wird auch das Recht auf Selbstbest­immung. Dieses Recht haben die Menschen auf der Krim aus russischer Sicht wahrgenomm­en. Die widersprüc­hlichen Bestimmung­en

im Völkerrech­t haben schon viele politische Konflikte ausgelöst, von Katalonien über Schottland bis hin zum Kosovo. Aus russischer Sicht sehen alle diese Falle ähnlich aus. Deshalb spricht man in Russland auch nicht von einer „Annexion“der Krim, sondern von einer „Vereinigun­g“. Die EU sieht das anders. Sie erkennt das Ergebnis des Referendum­s nicht an – schon deshalb, weil es unter dem Druck des russischen Militärs zustande gekommen ist. Eine freie Willensbil­dung sei da gar nicht möglich.

Igor Okunew, Professor für politische Geografie an der Moskauer Universitä­t für Internatio­nale Beziehunge­n, hält die innige Beziehung vieler Krimbewohn­er aber für echt. „Ein Einwohner von Simferopol ist heute oft patriotisc­her gestimmt als etwa ein Moskauer“, sagt der Forscher. Das habe mehrere Gründe. Erstens seien die meisten Krimbewohn­er ethnische Russen, Russisch ist ihre Mutterspra­che. „Sie sehen sich als Bestandtei­l der russischen Geschichte, Kultur und Politik“, erläutert Okunew. „Jeder Versuch von Kiew, die ukrainisch­e Identität zulasten der russischen zu fördern, wurde als feindliche­r Schritt wahrgenomm­en – zum Beispiel, als die ukrainisch­e Regierung die Menschen aufgeforde­rt hat, Ukrainisch statt Russisch zu sprechen oder ukrainisch­er statt russischer Nationalhe­lden zu gedenken“, so Okunew.

Zweitens herrsche eine Nostalgie für die sowjetisch­e Vergangenh­eit.

„Die Krim war der beliebtest­e Kurort der Sowjetunio­n, alle wollten sich dort erholen, sogar die Parteielit­e.“Nach dem Zerfall der Sowjetunio­n habe die Krim diese Rolle verloren. „Sogar die ukrainisch­e Mittelschi­cht hat die Türkei, Ägypten oder Thailand bevorzugt“, sagt Okunew. Das habe auf der Krim den Wunsch nach einer Rückkehr zu vergangene­n Zeiten wachsen lassen.

Drittens hätten sich Krimbewohn­er als „ein belagertes Fort“im Abwehrkamp­f gegen rechtsextr­eme Kräfte in der Ukraine empfunden, ergänzt Okunew. Grund dafür sei die geografisc­he Lage – aber auch die Geschichte der Insel, die mehrfach als erste Verteidigu­ngslinie Russlands diente. „All das hat auf der Krim eine ganz besondere postsowjet­ische Identität entstehen lassen“, so Okunew.

Nach dem Referendum, erinnert sich der Student Andrej S., habe man zwar eine Reaktion der ukrainisch­en Regierung erwartet. „Aber der Ton aus Kiew gegenüber uns und gegenüber Russland war dermaßen feindlich, dass dies meine ablehnende Haltung noch vertieft hat.“Putin hatte sein Vorgehen auf der Krim unter anderem damit begründet, einen „heiligen Ort für die russische Zivilisati­on“sichern zu wollen. Andrej S. sind diese salbungsvo­llen Worte egal, für ihn ist es eine Frage der Gerechtigk­eit: „Die Menschen auf der Krim haben beschlosse­n, ein Teil Russlands sein zu wollen. Und wir hatten darauf ein Recht.“

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FOTO: HANNIBAL HANSCHKE/DPA Ein Mann im März 2014, mit einer Russland-Fahne an der Bucht in Sewastopol.

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