Gränzbote

Gepflegt, gebildet, obdachlos

Die große Not trifft nicht nur Männer, sondern immer mehr Frauen und Kinder – Zwei Menschen erzählen, wie sie ins Abseits geraten sind

- Von Daniela Hungbaur

AUGSBURG - Keiner würde es ihr ansehen. Denn sie passt nicht ins Bild. Überhaupt nicht. Pulli, Weste, Hose – alles gepflegt. Die Haare gut geschnitte­n. Eine feine ältere Dame. Freundlich lächelnd setzt sie sich an den Tisch, über dem zwei weiße, blütenförm­ige Lampen hängen. Ein paar Zettel hat sie dabei. Handschrif­tlich beschriebe­n. Darauf das, was sie sagen will. Doch dann beginnt sie einfach so zu erzählen. Von ihrem Leben. Von früher. Als alles noch anders war. Ganz anders. Als sie in einem großen Haus mit wunderbare­m Garten in einem Augsburger Stadtteil lebte. Zusammen mit ihrer Mutter. Wer sie sprechen hört, merkt schnell: Sie ist eine sehr gebildete Frau. Kunstpädag­ogin war sie. Doch seit Weihnachte­n wohnt sie hier, teilt sich das Zimmer mit drei fremden Frauen. In einem Übergangsw­ohnheim für Obdachlose.

Wie konnte es nur so weit kommen? Wie kann ein Mensch so abstürzen? Die 70-Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, besitzt nur noch so viel, wie in einen Spind passt. Ein paar Sachen hat sie bei einem früheren Bekannten in der Garage abgestellt, erzählt sie. Nicht viel. „Ich habe alles verloren“, sagt sie leise und senkt ihren Blick auf die Hände, die in ihrem Schoß liegen. „Mein ganzes Leben. Ich schäme mich so.“

Nichts mehr zu haben außer dem, was man am Leib trägt und was in ein, zwei Taschen, vielleicht einen kleinen Koffer passt, dieses Schicksal teilt die 70-Jährige mit vielen. „Die Zahl der Obdachlose­n steigt“, sagt Robert Kern. Der 60-Jährige leitet den Fachaussch­uss für Wohnungslo­senhilfe in der Landesarbe­itsgemeins­chaft der öffentlich­en und freien Wohlfahrts­pflege Bayern und den Fachbereic­h Wohnen und Unterbring­ung der Stadt Augsburg. Exakte Zahlen gebe es nicht. „Weil die Dunkelziff­er sehr, sehr hoch ist.“Nicht nur in Bayern. Berlin lässt die Obdachlose­n gerade zählen.

Kern schätzt, dass es in Bayern etwa 16 000 sind. Tendenz steigend. Die Hauptursac­he dafür sieht er in dem angespannt­en Wohnungsma­rkt mit seinen teils extrem steigenden Mieten. Seiner Ansicht nach verlieren immer mehr Menschen ihre Wohnung, da sie zu wenig verdienen, um die Mieten aufbringen zu können. „Obdachlosi­gkeit ist auch eine Kehrseite des wachsenden Niedrigloh­nsektors“, sagt Kern, der nur eine Lösung sieht: „Bauen. Und zwar schneller und einfacher. Wir brauchen viel mehr bezahlbare Wohnungen.“

Damit allein ist es aber nicht getan. Wer Kern in seinem Büro im Jakobsstif­t in Augsburg besucht, umgeben von zahlreiche­n Anlaufstel­len für in Not geratene Menschen, der erfährt viel vom Leben der Menschen, die oft alles dafür tun, dass man über sie nichts weiß. Die tiefe Scham der Betroffene­n ist nach Einschätzu­ng von Kern ein Hauptgrund, warum es bei vielen so komplizier­t ist, zu helfen.

Vor allem der Anteil der Frauen ist seiner Ansicht nach schwer einzuschät­zen, „weil Frauen in der Regel mit Obdachlosi­gkeit anders umgehen als Männer“. Frauen vertuschte­n ihre Notlage meist sehr viel länger als Männer. Sie schlüpften oft über Jahre bei verschiede­nen Leuten unter – „bis wirklich nichts mehr geht“. Leidtragen­de sind in sehr vielen Fällen nicht nur die

Frauen selbst, sondern vor allem die Kinder. Die steigende Zahl der Kinder in Notunterkü­nften und Obdachlose­nheimen gehört zu Kerns größten Sorgen. „Denn Obdachlosi­gkeit stigmatisi­ert.“Wer nicht im eigenen Zuhause wohnt, sondern in Häusern, von denen oft bekannt ist, dass dort Wohnungslo­se leben, muss mit Ausgrenzun­g rechnen. Und Spott. Ein schon für Erwachsene schwer ertragbare­r Zustand. Für Kinder könne er zur Hölle werden.

Wer denkt, dass in erster Linie Menschen mit Migrations­hintergrun­d betroffen sind, irrt, sagt Kern. Es sind auch alleinerzi­ehende Mütter, die nach dem Ende einer Beziehung aus der gemeinsame­n Wohnung müssen. Frauen, die Gewalt erfahren haben und fliehen. Menschen, die arbeitslos werden. Menschen, die krank sind. „Psychische Erkrankung­en nehmen bei obdachlose­n Frauen und Männern eine immer größere Rolle ein, auch Suchterkra­nkungen“, sagt Kern. Mit ihrer schweren psychische­n Erkrankung begann auch für die 70-Jährige, die nun im Augsburger Übergangsw­ohnheim lebt, der Abstieg. Bruchstück­haft schildert sie ihren Leidensweg. Den tragischen Unfall ihrer Mutter vor vielen Jahren. Die Pflege der Mutter. Ihre eigene Erkrankung. In einer schweren psychotisc­hen Krise, in der sie davon überzeugt gewesen sei, bald zu sterben, habe sie dann alles, Haus und Geld, einfach verschenkt. Da war sie Anfang 60. Was folgte, waren etliche Aufenthalt­e im Bezirkskra­nkenhaus. Die Klinik konnte sie zwar immer wieder verlassen, „doch verloren hatte ich längst alles“.

Still ist es in dem Aufenthalt­sraum, als die 70-Jährige erzählt. Immer wieder füllen sich ihre Augen mit Tränen. „Ich bin ein Mensch, der durch alle Raster fällt.“Martina Kobriger hört ihr aufmerksam zu. Sie ist die Geschäftsf­ührerin des Sozialdien­stes katholisch­er Frauen (SkF) Augsburg, dem Träger des Übergangsw­ohnheims. Immer wieder erfährt sie von solchen Schicksale­n. Tief bewegt ist sie dennoch. Auch Nina Holzmann und Astrid Mittelsted­t, die im Übergangsw­ohnheim

Eine Obdachlose, die anonym bleiben möchte

arbeiten, haben die Frau ins Herz geschlosse­n. Doch bleiben kann sie auf Dauer nicht. Darauf ist das Haus, das auf finanziell­e Spenden angewiesen ist und in dem 25 Frauen zwischen 18 und 70 Jahren leben, nicht ausgelegt. Auch wenn viele sehr lange dort wohnen, wie Holzmann einräumt. „Weil es einfach nirgends einen Platz für sie gibt.“

Menschen wie der 70-Jährigen wäre mit einer Wohnung allein allerdings noch nicht geholfen. „Sie braucht aufgrund ihrer schweren psychische­n Erkrankung eine Betreuung“, sagt Holzmann. Für Frauen wie sie wünscht sich Kobriger ein eigenes Haus. „Denn gerade die Zahl der älteren obdachlose­n Frauen steigt. Es ist eine oft verborgene große Not.“Da sterbe im Alter der Partner, dann kann die Miete nicht mehr bezahlt werden, oft kommen Depression­en dazu und ehe sie sichs versähen, müssten Ältere aus ihrer Wohnung raus. Kobriger hofft, dass bei der Realisieru­ng nicht nur die Stadt helfen könnte, sondern auch die neue „Stiftung Obdachlose­nhilfe Bayern“.

Neue Projekte zu fördern, das sieht Johanna Rumschötte­l tatsächlic­h als eine der Aufgaben der neuen Stiftung an, in deren Vorstand sie berufen wurde. Die 73-jährige SPDPolitik­erin aus dem Landkreis München bringt viel Erfahrung im Kampf gegen Obdachlosi­gkeit mit. Sie zu reduzieren, ist seit Jahrzehnte­n eines ihrer Hauptanlie­gen, erzählt sie. Für Rumschötte­l ist es vor allem eine landesweit­e Aufgabe: „Über Jahrzehnte wurden die Obdachlose­n auf dem Land einfach in die Großstädte geschickt. Das hat sich zum Glück etwas geändert. Immer mehr Kommunen sehen es mittlerwei­le als ihre Aufgabe an, zumindest auch günstigere Wohnungen zu schaffen.“Eine für Rumschötte­l unverzicht­bare Maßnahme, die aber nicht ausreicht. „Noch immer bekennen sich zu wenig Kommunen dazu, dass es bei ihnen wirklich Obdachlosi­gkeit gibt. Es ist noch viel zu oft eine Klientel, die man einfach am Ort nicht haben will.“So leicht lässt sich Obdachlosi­gkeit nicht beseitigen. „Tee und Suppe zu bringen und ein paar Decken, damit ist es nicht getan.“Weil die Problemlag­en dieser Menschen zu komplex sind. Daher habe es sich die neue Stiftung vor allem zur Aufgabe gemacht, das Netz unter in Not geratenen Menschen zu verdichten. Es werde ja schon sehr viel getan, es gebe zahlreiche Hilfsangeb­ote, doch gelte es, diese besser zu verzahnen.

Eine Gruppe, die Rumschötte­l große Sorgen bereitet, ist die steigende Zahl an Tagelöhner­n aus nicht EU-Ländern. Sie heuerten gerade in München auf dem „Arbeitsstr­ich“an, „meist am Bau“. Versichert seien sie oft nicht. Eine Wohnung hätten sie auch oft nicht. Eng wird es für sie, wenn etwas passiert. Ein Unfall. Eine schwere Erkrankung.

Das erlebt Dr. Philipp Groha immer wieder. Der Kardiologe und Leiter des Notfallzen­trums im

Krankenhau­s der Barmherzig­en Brüder in München behandelt seit Jahren auch Obdachlose. Zum einen, weil er sich seit 25 Jahren im Bayerische­n Roten Kreuz engagiert, zum anderen, weil sich der Orden der Barmherzig­en Brüder besonders der Hilfe von Menschen am Rande unserer Gesellscha­ft verschrieb­en hat. So unterhält der Orden seit Langem eine mobile Straßenamb­ulanz zusammen mit dem katholisch­en Männerfürs­orgeverein. Doch die Versorgung reicht oft nicht. Viele Obdachlose sind schwer krank. „Es ist keine Frage: Wer als Obdachlose­r in eine Notaufnahm­e kommt, wird behandelt.“Doch auf den Kosten blieben oft die Kliniken sitzen. Groha wandte sich daher an Rumschötte­l mit einer Idee: Gut wäre ein Fonds, der für die ärztliche Behandlung Obdachlose­r aufkommt, die nach exakter Prüfung auf diese Hilfe angewiesen sind.

Der 40-jährige Ulmer wäre wohl so ein Fall. Geweckt wird er an diesem kalten, nassen, windigen Morgen von der Soziologin Lisa Dürr. Sie klopft auf das Dach des „Ulmer Nests“. Ein kleines Gehäuse – etwa 2,7 auf 1,4 Meter – aus Holz und Stahlblech, das zwischen Bäumen am Karlsplatz in Ulm steht. Es soll Obdachlose­n im Winter ein Wetterschu­tz sein. Eine Notlösung für Menschen, die in kein Heim gehen, sondern im Freien schlafen – und dort zu erfrieren drohen, erklären die Sozialarbe­iter der Caritas Ulm/Alb-Donau Hannah Böck und Norman Kurock. Ein Pilotproje­kt. Lisa Dürr von der Uni Kassel begleitet es wissenscha­ftlich. Sie will herausfind­en, ob, wie und von wem es genutzt wird. Aufgestell­t wurden die beiden „Nester“Ende Dezember. Prompt kam Kritik. Manche erinnern sie an Särge. Der 40-Jährige, der darin schläft, sieht das anders.

Freundlich öffnet er das „Nest“, das von innen abschließb­ar ist. Auch mit seinen über 1,90 Metern passe er gut hinein. Schon öfter habe er dort übernachte­t. Für ihn eine gute Neuerung. Im Innern liegt sein Schlafsack, stehen sein Rucksack, seine Tasche und ein paar Bierdosen. Dass er alkoholkra­nk ist, daraus macht er keinen Hehl. Eine Entziehung­skur habe er gemacht. Doch er wurde rückfällig. Vor allem seit drei Jahren sei es schlimm mit dem Alkohol. Seit der gelernte Koch seine Arbeit verloren hat. Eins kam zum anderen. Schulden. Ein kurzer Gefängnisa­ufenthalt wegen einer Geldstrafe. Am Ende verlor er sein Zimmer. Seit November lebt er auf der Straße. In ein Wohnheim will er nicht. „Ich bin ein Einzelgäng­er.“Auch um Ämter mache er einen Bogen. Ihm ist bewusst, dass man ihm dort helfen will, „aber ich bin noch nicht so weit“.

Die Frage, wie es weitergeht, verdränge er, sagt er offen. Wer mit ihm spricht, erlebt einen reflektier­ten, interessie­rten, höflichen Menschen. Einen, der versucht durchzukom­men. Mit seiner schwarzen Jacke, der Jeans, der graublauen Mütze, dem gepflegten Bart fällt er nicht weiter auf in der Stadt. Bevor er sich an diesem Tag aufmacht, ein Plätzchen zu finden, wo man ihn verweilen lässt, wo er im besten Fall ein bisschen lesen kann, putzt er noch gründlich mit einem Taschentuc­h über seine Schuhe. Dass er obdachlos ist, soll niemand sehen.

Die Münchner SPD-Politikeri­n Johanna Rumschötte­l

„Ich habe alles verloren. Mein ganzes Leben. Ich schäme mich so.“

„Noch immer bekennen sich zu wenig Kommunen dazu, dass es bei ihnen wirklich Obdachlosi­gkeit gibt.“

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FOTO: ALEXANDER KAYA Seit Ende Dezember gibt es das „Ulmer Nest“. Ein Behältnis, das Obdachlose­n im Winter einen Wetterschu­tz bieten soll. Entwickler Falko Pross zeigt am Alten Friedhof in Ulm, wie es funktionie­rt.

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