Gränzbote

RKI rechnet mit höherer Sterberate

Andreas Westerfell­haus, Pflegebevo­llmächtigt­er der Bundesregi­erung, über die Not der Pflege in der Corona-Krise

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BERLIN (dpa) - Das Robert Koch-Institut (RKI) ist davon überzeugt, dass sich die Coronaviru­s-Sterberate in Deutschlan­d erhöhen wird. Im Moment liege die Rate bei 0,8 Prozent, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler am Dienstag in Berlin. Die Meldungen hätten aber einen Zeitverzug, erläuterte er, zudem gebe es vermehrt Fälle in Altenheime­n. „Wir müssen leider davon ausgehen, dass die Sterberate damit ansteigen wird.“Sie liegt hierzuland­e niedriger als in der Gesamt-EU mit 7,6 Prozent.

BERLIN - In den 1970er-Jahren war Andreas Westerfell­haus Krankenpfl­eger, seit 2018 soll er als Pflegebevo­llmächtigt­er der Bundesregi­erung die Stimme der Pflege in der Politik sein. Klaus Wieschemey­er sprach mit ihm.

Herr Westerfell­haus, Sie bezeichnen die Corona-Krise als historisch­e Belastungs­probe für die Pflege. Wo ist die Herausford­erung besonders groß?

Es gibt nicht die eine, sondern eine große Vielfalt von Herausford­erungen und die sind vom Krankenhau­s bis zur ambulanten Langzeitpf­lege sehr verschiede­n. Das reicht von der Betreuung schwerer und mitunter tödlicher Verläufe bis zum Pflegebedü­rftigen, der den Dienst aus Angst vor Ansteckung nicht ins Haus lassen will.

Besonders die gehäuften Todesfälle in Altenpfleg­eeinrichtu­ngen wie in Würzburg oder Wolfsburg sorgen für Betroffenh­eit.

Die Bewohnerin­nen und Bewohner gehören zur besonders gefährdete­n Personengr­uppe. Es sind nicht die 40-Jährigen, die sich frei bewegen und sich selbst versorgen können. Viele haben es mit mehreren grundlegen­den Erkrankung­en zu tun, die Atmung und das Herz-KreislaufS­ystem sind bereits eingeschrä­nkt.

Was kann man tun?

Es ist eine Illusion zu glauben, dass ein Virus, das sich so rasant verbreitet, nicht auch den Weg in diese Häuser findet. Den 100-prozentige­n Schutz gibt es nicht. Aber hier gilt das Gleiche wie überall: Durch strenge Befolgung der Richtlinie­n des Robert-Koch-Instituts (RKI) die Ausbreitun­g so weit wie möglich vermeiden.

Beklagen sich Pflegende bei Ihnen, weil für die RKI-Richtlinie­n schlicht die Ausrüstung fehlt?

Viele fragen: Wie kann es sein, dass die Richtlinie­n uns Schutz vorschreib­en, wenn wir vor Ort nicht genug Schutzklei­dung und Desinfekti­onsmittel haben? Das ist ein Riesenprob­lem. Das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium versucht alles, damit so schnell wie möglich Ausrüstung vor Ort ankommt. Aber viele andere suchen auch nach Material.

Das ist wenig tröstlich.

Man muss ehrlicherw­eise sagen: Die ganze Welt ruft gerade nach Schutzklei­dung. Und auf so etwas wie jetzt war die ganze Welt nicht vorbereite­t. Zu glauben, ich kann von heute auf morgen alles lösen, ist illusorisc­h. Aber wenn ich sehe, dass Betriebe ihre Produktion umstellen, dass Destilleri­en Desinfekti­onsmittel herstellen und Textilhers­teller Mundschutz­e, ist da schon etwas in Gang gekommen.

Also reicht es nicht.

Wir tun alles, damit es am Ende reicht. Aber es ist eng. Sehr eng. Und wenn ich dann noch höre: „Wir werden in der ambulanten oder in der stationäre­n Langzeitpf­lege benachteil­igt“, muss ich sagen: Diese Benachteil­igung darf es nicht geben. Wo sich Menschen mit vollem Einsatz, vielen Überstunde­n und dem Wissen um die Gefahr um Gefährdete, Erkrankte und Sterbende kümmern, ist persönlich­er Schutz das Mindeste. Dafür sind wir als Gesellscha­ft verantwort­lich.

Was folgt aus dem Engpass?

Ein Appell an die Bevölkerun­g. Bei allem Verständni­s, dass wir uns schützen wollen: Beim Gang zum Lebensmitt­elgeschäft bitte nur selbst gefertigte Schutzmask­en tragen. Das reicht beim Gespräch an der Kasse. Die hochwertig­en Schutzmask­en werden aktuell von den profession­ellen Helfern dringend gebraucht.

Es fehlt Ausrüstung, gleichzeit­ig werden Pflegende beklatscht ...

Wenn jemand vom Balkon applaudier­t, finde ich das richtig. Das stärkt den Pflegekräf­ten den Rücken. Aber zusätzlich brauchen wir auch eine andere Bezahlung. Und dass die Boni jetzt steuerfrei bleiben, zeigt, dass Staat und Politik handeln, und vielleicht könnten sich jetzt die Tarifpartn­er ja endlich auch auf einen flächendec­kenden Tarifvertr­ag für die Pflege einigen.

Das reicht Ihnen nicht?

Die aktuelle Lage sollte uns eine Lehre sein, dass sich nachhaltig etwas ändern muss. Pflegende werden in der Krise als Helden des Alltags bezeichnet. Doch wir brauchen sie auch ohne Corona tagtäglich. Es ist richtig, dass Pflegende bei aller Freude über emotionale Unterstütz­ung auch monetäre Wertschätz­ung verlangen.

Sie wollen auch andere Strukturen.

Manche Bundesländ­er wollen Fachkräfte zurückhole­n, die nicht mehr im Beruf sind. Und haben das Problem, dass sie nicht wissen, wo die Leute sind, weil niemand sie registrier­t hat. Mit Portalen wie pflegerese­rve.de wird jetzt, in der Krise, ein Portal aus der Zivilgesel­lschaft heraus entwickelt. Das ist gut. Aber eigentlich ist das eine Aufgabe für die Selbstverw­altung der Pflege in den Ländern, für die ich mich auch darum seit Jahren starkmache. Damit wir wissen, wo die Leute sind. Zudem gehört der Berufsstan­d mit an den Tisch, wenn wir über Patientens­chutz sprechen.

Sie wollen eine Pflegekamm­er in jedem Bundesland?

Selbstvers­tändlich. Wir haben eine Bundespfle­gekammer und mit Niedersach­sen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein drei Länder, in denen die Kammer sehr gut oder gut funktionie­rt. In Nordrhein-Westfalen und Baden-Württember­g stehen wir kurz vor der Gründung.

Bayern hat eine freiwillig­e Pflegevere­inigung ….

Eine echte Vertretung der Pflegenden ist unabhängig und neutral. Das ist die bayerische Vereinigun­g nicht.

Viele 24-Stunden-Pflegekräf­te aus Osteuropa wollen zu Ostern nach Hause, noch ist offen, ob sie wiederkomm­en. Laufen wir in eine Pflegekata­strophe?

Offiziell haben wir ja kein Problem: Eine legal beschäftig­te sogenannte 24-Stunden-Kraft kann ungehinder­t wieder nach Deutschlan­d einreisen. Die Frage ist, was mit den vielen passiert, die nicht legal arbeiten und die vielleicht aus Angst zu Hause bleiben. Wir ahnen, dass ihr Anteil beträchtli­ch ist, aber wir wissen es nicht.

Was folgern Sie daraus?

Diese Frage zeigt doch das ganze Dilemma in der Pflege. Warum gibt es diese 24-Stunden-Kräfte? Weil wir in vielen Bereichen nicht genug eigenes Personal haben und uns in anderen Ländern bedienen. Und weil die Pflegevers­icherung nicht immer die Bedarfe der Pflegebedü­rftigen abdeckt. Nach der Krise müssen wir das ganze Thema Pflege auf Dauer auf eine ganz andere Bühne heben.

Und das geht wie?

Wir müssen den Beruf attraktive­r machen, mehr ausbilden, Karrierech­ancen eröffnen. Und wir müssen besser bezahlen. Das hat viele Nichtbetro­ffene lange nicht beschäftig­t. Durch Corona kann sich die Bevölkerun­g nicht mehr wegducken. Sie nimmt wahr, was Pflege alles beinhaltet. Das kann eine Chance sein.

Muss der Bund Kompetenze­n von den Ländern an sich ziehen?

Föderalism­us ist in vielen Dingen gut. Aber in der Pflege wünsche ich mir schon mehr einheitlic­he Standards. Man kann mir nicht erklären, warum in Baden-Württember­g andere Personalsc­hlüssel gelten als in Brandenbur­g. Die Menschen haben die gleichen Bedürfniss­e, da darf Versorgung nicht von Ländergren­zen abhängig sein.

Wie wird die Pflege in Zukunft diese Zeit im Rückblick bilanziere­n?

Ich hoffe, dass man sagen wird: Es war eine harte Zeit, aber wir haben gut zusammenge­arbeitet und es bis zum Schluss geschafft, die Menschen auf einem guten Niveau zu versorgen. Und mit noch mehr Abstand auch: Wir haben viel daraus gelernt: Endlich sind die Verbesseru­ngen in der Pflege, für die wir so viele Jahre gekämpft haben, umgesetzt worden. Jetzt sind wir gewappnet, mit kommenden Herausford­erungen umzugehen. Und vielleicht wird man dazusetzen: Schade, dass es dafür erst eine solche Krise brauchte.

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FOTO: MICHAEL EICHHAMMER/MAGO-IMAGES Betagte Menschen sind vom Coronaviru­s besonders bedroht. Deshalb wurde ein „Besuchs- und Betretungs­verbot“in Altenheime­n erlassen, um die Gefahr einer weiteren Ausbreitun­g des Virus einzudämme­n.
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FOTO: DPA Andreas Westerfell­haus

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