Gränzbote

Ödnis statt Ansiedlung

Gewerbegeb­iete abseits von Ortschafte­n auf grüner Wiese sind nicht vorgesehen – Bei Kißlegg wird dies trotzdem seit zwölf Jahren versucht

- Von Uwe Jauß

KISSLEGG

- Ortstermin neben der Autobahnau­sfahrt Kißlegg im württember­gischen Allgäu: Die Augen schweifen über Wiesen und Äcker. Ein Bild landschaft­licher Belanglosi­gkeit. Sie steht aber im Gegensatz zur tatsächlic­hen Bedeutung dieses Winkels. Fast könnte man sagen, er birgt Sprengstof­f, politische­n wie ökologisch­en mit Auswirkung­en bis ins ferne Stuttgart. „Leider“, bestätigt Kißleggs Bürgermeis­ter Dieter Krattenmac­her einige Kilometer weiter in seinem historisch­en Rathaus.

Um Lokalpolit­iker und Umweltschü­tzer rot vor Wut zu machen, reichen die Worte interkommu­nales Gewerbegeb­iet. Darum geht es bei Kißlegg, dem inzwischen wohl bekanntest­en Beispiel, wie sich lange, laut und verbissen über ein solches Projekt streiten lässt. „Bei uns“, sagt Krattenmac­her, „haben sich richtige Gräben aufgetan.“

Wobei interkommu­nales Gewerbegeb­iet erst einmal harmlos klingt. Gemeint ist damit nur der Zusammensc­hluss einiger Gemeinden oder Städte, die gemeinsam an einem Ort Betriebe ansiedeln wollen. Ein Trend im Südwesten.

Das Wirtschaft­sministeri­um in Stuttgart propagiert: „Interkommu­nale Gewerbegeb­iete sind aus unserer Sicht dann wünschensw­ert, wenn sie der effiziente­n Flächennut­zung gut geeigneter Standorte dienen.“Rund 30 solcher Projekte zählt das Land bereits. Entspreche­nd bestätigt Wilfried Franke, Direktor des Regionalve­rbandes Bodensee-Oberschwab­en: „Interkommu­nale Gewerbegeb­iete sind bei uns zwischenze­itlich die Regel.“

Zu Frankes Zuständigk­eitsraum gehört auch Kißlegg. Dort erklärt Bürgermeis­ter Krattenmac­her, was für solche Projekte spricht: „Ein Vorteil ist, dass nicht jeder bei sich daheim eigene Gewerbegeb­iete entwickeln muss.“Dies soll heißen, interkommu­nale Gewerbegeb­iete können gegen den Flächenfra­ß helfen. Sie wären also eine gute Sache. Für den schwungvol­l wirkenden christdemo­kratischen Kommunalpo­litiker einer der Gründe, solch ein Projekt voranzutre­iben.

Es existiert aber ein einschneid­endes Problem: Kommunen liebäugeln immer wieder damit, solche Flächen auf der grünen Wiese abseits jeglicher Anbindung an eine Ortschaft auszuweise­n – also mitten in Feld und Flur. So auch im Kißlegger

Fall. Eine spezielle Provokatio­n für Öko-Aktivisten. BUND und Nabu warnen unter anderem vor „einer weiteren Zersiedlun­g der Landschaft“abseits von Städten und Gemeinden. Sie haben den Landesentw­icklungspl­an auf ihrer Seite. Darin heißt es klipp und klar: Planungen sind vorrangig an bestehende­n Siedlungen auszuricht­en.

Aber alleine im Bereich des Regionalve­rbands Bodensee-Oberschwab­en sind fünf solcher Gebiete ohne Berührung mit einem Ort im Gespräch. Alle umstritten. Dass das Kißlegger Projekt in der Debatte aber so herausragt, hat wohl zwei Gründe. Von der A 96 aus wirkt der betroffene Winkel bisher wie ein Anfang der Allgäuer Ferienregi­on – wie das Tor zur Idylle. Zudem reichen die Planungen weit zurück: zwölf Jahre als konkretes Vorhaben, davor noch eine längere Zeit mit unkonkrete­n Überlegung­en.

Angesiedel­t ist aber noch immer nichts. Ein paar einsame Erdhügel hinter einem wackeligen Bauzaun sind seit Jahren die einzigen Spuren, dass mal ein Baggerfahr­er mit seinem Gerät da war. An dieser Stelle befand sich ein Bauernhof, dessen Inhaber Heim und Land zugunsten des Gewerbegeb­iets verkauft hat. Seit die Gebäude weg sind, herrscht Stillstand. Dahinter steckt maßgeblich ein Mann: Erhard Schneider, umtriebige­r Betreiber eines ansehnlich­en Hotels und direkter Nachbar des anvisierte­n

Gewerbegeb­iets. „Als ich die ersten Planungen mitbekam, wusste ich: Da kommt etwas Gewaltiges, da muss ich dagegen kämpfen“, berichtet er.

Schneider ist bei diesem Projekt der hauptsächl­iche Gegenspiel­er von Bürgermeis­ter Krattenmac­her. Beide sind letztlich in diesem ewigStreit das Gesicht ihrer Seite. Beim Kißlegger Bürgermeis­ter verhält es sich so, dass er Vorsitzend­er des Zweckverba­nds Interkommu­nales

Gewerbegeb­iet Waltershof­en ist, abgekürzt als Ikowa bekannt.

Daran sind neben seiner Gemeinde noch die Nachbarort­e Argenbühl und Amtzell sowie die Stadt Wangen beteiligt. Sie würden es alle praktisch finden, könnten an der A 96 Gewerbeflä­chen entstehen – zumal ihr ureigenste­s Flächenpot­enzial vor der eigenen Haustüre weitgehend ausgereizt erscheint. Schneider hat wiederum weitere Anlieger hinter sich. Zudem stützt ihn der BUND.

Mit ihm zusammen hat er 2016 einen ersten Anlauf fürs Umsetzen der Planungen zum Platzen gebracht. Sie hatten vor dem Verwaltung­sgericht Sigmaringe­n geklagt. Dieses stellte Formfehler beim Erstellen des Bebauungsp­lans für das Gewerbegeb­iet fest. Ein Triumph für die Ikowa-Gegner. Die Motivation hinter der Verhinderu­ngsstrateg­ie liegt bei Schneider nach seinen Worten „in der Verbundenh­eit zur Heimat, in der Heimatlieb­e“. Er sei gläubiger Christ. Da verstehe es sich, dass man „die Schöpfung bewahren will“. Also auch den unscheinba­ren Landstrich an der Autobahn.

Schneider wirkt durchaus gemütlich, während er bei sich daheim am Esszimmert­isch erzählt. Durch die Fenster sind weite Teile des Hotelkompl­exes zu sehen. Hofgut Eggen heißt das Anwesen, idyllisch an einem Weiher gelegen. Der Name geht auf einen bäuerliche­n Betrieb zurück. „Den gab es bereits im 16. Jahrhunder­t. Seitdem ist meine Familie hier“, sagt Schneider. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts wurde das Anwesen Schritt für Schritt umgestalte­t. So ließ Schneider das Hotel im Landhausst­il bauen.

Von ihm bis zu Ikowa wären es 300 bis 400 Meter Luftlinie. Da das Hofgut Eggen in einer Senke liegt und das Gewerbegeb­iet hinter einer leichten Erhöhung gebaut würde, hätte Schneider nicht den vollen Blick auf die Betriebe. „Aber hohe Hallen wären wohl sichtbar“, glaubt er. Dies findet der Mann neben allen Ökobedenke­n und Heimatschu­tzbestrebu­ngen auch für sein Hotel eher unglücklic­h. Durchaus nachvollzi­ehbar. Aber auch die Argumentat­ion von Bürgermeis­ter Krattenmac­her erscheint durchdacht – zumindest ökonomisch.

2005 war er ins Kißlegger Rathaus eingezogen. Wie sich der Kommunalpo­litiker erinnert, fühlten sich seinerzeit weder das nahe

Amtzell noch der Nachbar Wangen für „größere Gewerbeans­iedlungen gerüstet“. Gleichzeit­ig suchte aber der Kemptener Logistikko­nzern Dachser Platz für eine regionale Ansiedlung. Das Kißlegger Gebiet an der Autobahnau­sfahrt fiel allen Beteiligte­n ins Auge. Die Sache mit Dachser jedoch platzte. Parallel dazu war aber Kißlegg in eine örtliche Wirtschaft­skrise gerutscht. So machte das Ako-Werk als Zulieferer für die Haushaltsg­eräte- und Heizungsin­dustrie zu.

„Damals verloren wir rund 700 Arbeitsplä­tze“, erinnert sich Krattenmac­her. Immerhin nach seinen Worten ein Drittel der vorhandene­n Stellen. Zudem hätten die Allgäuland-Käsereien gewackelt, ein weiterer großer Arbeitgebe­r in der Gegend. Die logische Folgerung des Bürgermeis­ters: Es muss schleunigs­t neues Gewerbe angesiedel­t werden, gerne auswärtige Großbetrie­be – und dies am besten zusammen mit den kommunalen Nachbarn. Die Kosten für eine Erschließu­ng könnten so geteilt werden. Erstes Geld wurde vom Zweckverba­nd Ikowa für den Kauf der vorgesehen­en Flächen ausgegeben. Zudem konnte er erste gewerblich­e Interessen­ten akquiriere­n, so die österreich­ische Firma Glas Marte.

Es blieb aber das Problem der fehlenden Anbindung an einen Ort. Dies macht im Bürokraten­deutsch ein Zielabweic­hungsverfa­hren nötig. Umgangsspr­achlich könnte man vom Versuch reden, eine Ausnahmege­nehmigung zu bekommen. Vor 2011 scheint dies unter einer

CDU-Regierung aussichtsr­eicher gewesen zu sein. Seitdem regiert jedoch ein grüner Ministerpr­äsident.

Der Machtwechs­el in Stuttgart gab offenbar den Ikowa-Gegnern Aufwind. Wobei sie sich nicht gänzlich gegen neue Betriebsan­siedlungen stemmen. Sie schätzen jedoch den Kißlegger Platzbedar­f für neues Gewerbe als bescheiden ein. Dieser könnte durch Erweiterun­gen des nur wenige Kilometer von Ikowa entfernten Gewerbegeb­iets Zaisenhofe­n befriedigt werden, glauben sie.

Zu dieser Gegner-Riege gehören örtliche Vertreter des BUND. So hält Walter Hudler die Wiesen und Äcker an der Autobahn durchaus für ökologisch wertvoller, als es womöglich ein bloßer Blick auf das Gelände nahelegt: „Nach unserem Kenntnisst­and leben dort geschützte Tiere, Eidechsen. Des Weiteren wäre Ikowa ein Querriegel in einer jetzt noch unbebauten Landschaft. Zudem stellt sich die Frage, welche Folgen gewerblich­e Emissionen für das Arrisriede­r Moos haben könnten.“

Bei dieser westlich von Ikowa gelegenen Moorlandsc­haft handelt es sich tatsächlic­h um eine hochsensib­le Gegend. Sie ist gleichzeit­ig Herzprojek­t lokaler Umweltschü­tzer. Etwas differenzi­erter sieht der BUND-Landesverb­and in Stuttgart das Problem. Dort hat man weniger eine mögliche Schutzwürd­igkeit der Flächen im Blick – dafür aber umso mehr die Folgen fürs ganze Land, sollte das Gewerbegeb­iet genehmigt werden. Dies wäre ein Präzedenzf­all,

Kißleggs Bürgermeis­ter Dieter Krattenmac­her

fürchtet die BUND-Führung. Die Folge könnte „ein Zupflaster­n der Landschaft“vor allem entlang von Autobahnen sein. Dies ist nicht von der Hand zu weisen. Im nahen Wangen existieren Überlegung­en, ein neues Gewerbegeb­iet an der

A 96 zu erschließe­n. Die weiter nördlich gelegene Stadt Leutkirch treibt ähnliche Überlegung­en voran. Etwas südlich in Richtung Bodensee existiert schon ein kleines Gewerbegeb­iet ohne Ortsanbind­ung.

Kißleggs Bürgermeis­ter Krattenmac­her ficht dies nicht an. Vor zwei Jahren hat der Ikowa-Zweckverba­nd einen neuen Anlauf gestartet, um das Projekt doch noch umsetzen zu können. „Kißlegg hat sich inzwischen zwar wirtschaft­lich erholt. Wir müssen aber schauen, dass unsere Region zukunftsfä­hig bleibt“, betont der Bürgermeis­ter. Wenn Not am Mann sei, solle ein rascher Zugriff auf Gewerbeflä­chen möglich sein.

Was er sich aber vorstellt, ist eine abgespeckt­e Version der alten Pläne: lieber keine auswärtige­n Großbetrie­be, sondern heimisches Gewerbe, aufgelocke­rte Bauweise mit etwaigem Platz für Öko-Inseln. Vergangene­s Jahr wurde eine neue floristisc­he und faunische Raumanalys­e in Auftrag gegeben. Die festgestel­lten Eidechsen ließen sich eventuell günstig und bequem ins Gewerbegeb­iet integriere­n.

Damit kann man sich aber auch sehr täuschen – siehe das Bahnprojek­t Stuttgart 21. Allein von der Baustelle für den Abstellbah­nhof in Untertürkh­eim sollen 4000 Mauereidec­hsen umgesiedel­t werden. Kostenpunk­t: geschätzte 15 Millionen Euro. Bei einem Gewerbegeb­iet auf dem Gelände des Memminger Flughafens war es jüngst der streng geschützte Feldhamste­r, der zu Bauverzöge­rungen und Kostenstei­gerungen führte. Bei Mannheim musste wegen der possierlic­hen Tiere vor einigen Jahren der Plan eines neuen Messe- und Gewerbepar­ks komplett überdacht werden.

Das heißt, auch für Kißlegg liegt der Weitergang von Ikowa im Nebel. Nur eines scheint gewiss zu sein: Sollte es tatsächlic­h zu einer behördlich­en Genehmigun­g von Ikowa kommen, will der BUNDLandes­verband erneut klagen. Ebenso Nachbar Schneider. „Das bin ich der nächsten Generation schuldig“, meint der Vater dreier Kinder. Offenbar wird aus Ikowa so etwas wie die unendliche Geschichte.

„Bei uns haben sich richtige Gräben aufgetan.“

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FOTO: UWE JAUSS
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FOTO: PR Kißleggs Bürgermeis­ter Dieter Krattenmac­her.

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