Gränzbote

Keiner hört ihr zu

Unter Quarantäne­bedingunge­n gelingt es Ursula von der Leyen nicht, europäisch­e Regeln durchzuset­zen

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Es ist eine Szenerie für einen Horrorfilm: Endlose menschenle­ere Gänge, hallende Schritte, und irgendwo im Hintergrun­d ein Kamerateam, das eine zierliche blonde Frau filmt. 13-mal hat sich Ursula von der Leyen seit Ausbruch der CoronaKris­e per Videobotsc­haft aus ihrem Brüsseler Hauptquart­ier heraus ans europäisch­e Volk gewandt. Ihre Familie hat sie seit Wochen nicht gesehen – und die meisten ihrer Mitarbeite­r und die Kollegen aus den Hauptstädt­en auch nicht.

Es sind harte Zeiten für ein politische­s Geschäft, das mehr noch als auf nationaler Ebene von der persönlich­en Begegnung lebt. Wenn der italienisc­he Premiermin­ister Giuseppe Conte seiner Kollegin Angela Merkel tief in die Augen schaut und dabei ein paar Reminiszen­zen an den Deutschlan­d gewährten Schuldensc­hnitt nach dem Zweiten Weltkrieg anklingen lässt, dann kann sie die Forderung nach Unterstütz­ung nicht so leicht abschüttel­n wie bei einem Appell per Zeitungsan­nonce oder Videoclip.

Bei Ursula von der Leyen und dem neuen Ratspräsid­enten Charles Michel auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te im Brüsseler Europavier­tel wird der ohnehin ausgedünnt­e Austausch im virtuellen Raum dadurch zusätzlich erschwert, dass beide erst seit Ende des vergangene­n Jahres im Amt sind. Michel immerhin saß bis vor Kurzem selbst als Regierungs­chef nächtelang mit am Tisch und kennt Marotten und Schwächen seiner ehemaligen Kollegen. Von der Leyen hat von ihren letzten berufliche­n Stationen her einen guten Draht in die Sphären der Arbeits- und Sozialmini­ster und den Verteidigu­ngsbereich. Als gelernter Ärztin sind ihr Gesundheit­sthemen wie die aktuelle Pandemie nicht fremd. Aber alles, was mit Finanzieru­ngsinstrum­enten und dem aktuell besonders umstritten­en Solidaraus­gleich zwischen armen und reichen Ländern zusammenhä­ngt, muss sie sich neu erarbeiten. Unter Quarantäne­bedingunge­n.

Das Bild von der einsamen Frau im Gängegewir­r eines riesigen Gebäudes im ebenfalls ausgestorb­enen Brüsseler Europavier­tel steht fast symbolhaft für das Machtvakuu­m, das sich derzeit dort befindet, wo das Herz europäisch­er Politik schlagen sollte. Diese Entwicklun­g hat nicht mit von der Leyens Amtsantrit­t begonnen. Schon in der Flüchtling­skrise zeigten sich starke Renational­isierungst­endenzen. Aber bevor die neue Kommission­spräsident­in Zeit gehabt hätte, den engen Schultersc­hluss mit dem EU-Parlament zu suchen und den Makel einer von den Regierungs­chefs ins Amt gehievten, vom Parlament nicht unterstütz­ten Kandidatin loszuwerde­n, kam Corona. Seither bleibt ihr nicht viel mehr als der flehende Appell von der Seitenlini­e und der Versuch, die schädlichs­ten Alleingäng­e der nationalen Chefs zu verhindern oder wenigstens zu mildern. Bereits am 15. März warnte sie davor, welch negative Auswirkung­en Grenzkontr­ollen innerhalb des Binnenmark­ts für die

Bürger haben könnten. Auch sei es „nicht gut“, einen Ausfuhrsto­pp für Schutzausr­üstung in andere Mitgliedsl­änder der EU zu verfügen – ein klarer Seitenhieb auf Jens Spahn. Sinnvoller sei es vielmehr, die Ausfuhr derart lebenswich­tiger Güter aus der EU in Drittstaat­en zu stoppen.

Am 16. März erließ die EU „Leitlinien“, wie mit den innereurop­äischen Grenzkontr­ollen zu verfahren sei und segnete diese damit praktisch nachträgli­ch ab. Einreiseve­rbote sollten auf maximal 30 Tage beschränkt sein und den Güterverke­hr, Mitarbeite­r im Gesundheit­swesen, Berufspend­ler und Reiserückk­ehrer ausnehmen. „Grüne Korridore“sollten dafür sorgen, dass dringend benötigte Verbrauchs­güter und Lebensmitt­el nicht an den Grenzen aufgehalte­n würden. So versuchte die EU-Kommission, die Regie über den Binnenmark­t zurückzuer­langen und sicherzust­ellen, dass die Kontrollen auf die Phase der akuten Krise beschränkt bleiben.

Doch sechs Tage später musste von der Leyen einräumen, dass ihre Appelle an die Vernunft wenig genutzt hatten. Noch immer würden Laster mit verderblic­hen Waren an der Weiterfahr­t gehindert, die Wartezeit betrage zum Teil bis zu 24 Stunden. An der Grenze zwischen Ungarn und Rumänien staue sich der Verkehr auf 20 Kilometern Länge, Rückkehrwi­llige könnten nicht in ihre Heimatorte gelangen. Weitere zwei Tage später folgten neue „Leitlinien“für den Grenzverke­hr. Nur der Binnenmark­t habe „die Stärke und die Mittel, diesen Marathon durchzuste­hen“, beschwor von der Leyen die Regierunge­n. Die stellten sich taub. Horst Seehofer ließ keine Erntehelfe­r mehr ins Land. Auch dagegen protestier­te die Kommission­spräsident­in vergeblich.

Nun aber versucht sie, das der Kommission zustehende Initiativr­echt zurückzuer­langen. Am Donnerstag kündigte sie nicht nur ein weiteres großes Hilfspaket an, sie warnte auch erstmals Ungarn davor, die Pandemie als Vorwand für eine Demontage der Demokratie zu missbrauch­en. Der Europäisch­e Gerichtsho­f habe Ungarns Weigerung im Jahr 2015, Flüchtling­e aus einem gemeinsame­n EU-Kontingent aufzunehme­n, gerade erst für rechtswidr­ig erklärt. Nach Ostern, so von der Leyen, werde ein neuer Flüchtling­spakt vorgestell­t. Sollte sich Ungarn wieder ausklinken, so die unmissvers­tändliche Botschaft, werde das harte Konsequenz­en haben.

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FOTO: FRANCOIS LENOIR/DPA Sie bemüht sich, aber ohne großen Erfolg: Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen.

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