Keiner hört ihr zu
Unter Quarantänebedingungen gelingt es Ursula von der Leyen nicht, europäische Regeln durchzusetzen
BRÜSSEL - Es ist eine Szenerie für einen Horrorfilm: Endlose menschenleere Gänge, hallende Schritte, und irgendwo im Hintergrund ein Kamerateam, das eine zierliche blonde Frau filmt. 13-mal hat sich Ursula von der Leyen seit Ausbruch der CoronaKrise per Videobotschaft aus ihrem Brüsseler Hauptquartier heraus ans europäische Volk gewandt. Ihre Familie hat sie seit Wochen nicht gesehen – und die meisten ihrer Mitarbeiter und die Kollegen aus den Hauptstädten auch nicht.
Es sind harte Zeiten für ein politisches Geschäft, das mehr noch als auf nationaler Ebene von der persönlichen Begegnung lebt. Wenn der italienische Premierminister Giuseppe Conte seiner Kollegin Angela Merkel tief in die Augen schaut und dabei ein paar Reminiszenzen an den Deutschland gewährten Schuldenschnitt nach dem Zweiten Weltkrieg anklingen lässt, dann kann sie die Forderung nach Unterstützung nicht so leicht abschütteln wie bei einem Appell per Zeitungsannonce oder Videoclip.
Bei Ursula von der Leyen und dem neuen Ratspräsidenten Charles Michel auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Brüsseler Europaviertel wird der ohnehin ausgedünnte Austausch im virtuellen Raum dadurch zusätzlich erschwert, dass beide erst seit Ende des vergangenen Jahres im Amt sind. Michel immerhin saß bis vor Kurzem selbst als Regierungschef nächtelang mit am Tisch und kennt Marotten und Schwächen seiner ehemaligen Kollegen. Von der Leyen hat von ihren letzten beruflichen Stationen her einen guten Draht in die Sphären der Arbeits- und Sozialminister und den Verteidigungsbereich. Als gelernter Ärztin sind ihr Gesundheitsthemen wie die aktuelle Pandemie nicht fremd. Aber alles, was mit Finanzierungsinstrumenten und dem aktuell besonders umstrittenen Solidarausgleich zwischen armen und reichen Ländern zusammenhängt, muss sie sich neu erarbeiten. Unter Quarantänebedingungen.
Das Bild von der einsamen Frau im Gängegewirr eines riesigen Gebäudes im ebenfalls ausgestorbenen Brüsseler Europaviertel steht fast symbolhaft für das Machtvakuum, das sich derzeit dort befindet, wo das Herz europäischer Politik schlagen sollte. Diese Entwicklung hat nicht mit von der Leyens Amtsantritt begonnen. Schon in der Flüchtlingskrise zeigten sich starke Renationalisierungstendenzen. Aber bevor die neue Kommissionspräsidentin Zeit gehabt hätte, den engen Schulterschluss mit dem EU-Parlament zu suchen und den Makel einer von den Regierungschefs ins Amt gehievten, vom Parlament nicht unterstützten Kandidatin loszuwerden, kam Corona. Seither bleibt ihr nicht viel mehr als der flehende Appell von der Seitenlinie und der Versuch, die schädlichsten Alleingänge der nationalen Chefs zu verhindern oder wenigstens zu mildern. Bereits am 15. März warnte sie davor, welch negative Auswirkungen Grenzkontrollen innerhalb des Binnenmarkts für die
Bürger haben könnten. Auch sei es „nicht gut“, einen Ausfuhrstopp für Schutzausrüstung in andere Mitgliedsländer der EU zu verfügen – ein klarer Seitenhieb auf Jens Spahn. Sinnvoller sei es vielmehr, die Ausfuhr derart lebenswichtiger Güter aus der EU in Drittstaaten zu stoppen.
Am 16. März erließ die EU „Leitlinien“, wie mit den innereuropäischen Grenzkontrollen zu verfahren sei und segnete diese damit praktisch nachträglich ab. Einreiseverbote sollten auf maximal 30 Tage beschränkt sein und den Güterverkehr, Mitarbeiter im Gesundheitswesen, Berufspendler und Reiserückkehrer ausnehmen. „Grüne Korridore“sollten dafür sorgen, dass dringend benötigte Verbrauchsgüter und Lebensmittel nicht an den Grenzen aufgehalten würden. So versuchte die EU-Kommission, die Regie über den Binnenmarkt zurückzuerlangen und sicherzustellen, dass die Kontrollen auf die Phase der akuten Krise beschränkt bleiben.
Doch sechs Tage später musste von der Leyen einräumen, dass ihre Appelle an die Vernunft wenig genutzt hatten. Noch immer würden Laster mit verderblichen Waren an der Weiterfahrt gehindert, die Wartezeit betrage zum Teil bis zu 24 Stunden. An der Grenze zwischen Ungarn und Rumänien staue sich der Verkehr auf 20 Kilometern Länge, Rückkehrwillige könnten nicht in ihre Heimatorte gelangen. Weitere zwei Tage später folgten neue „Leitlinien“für den Grenzverkehr. Nur der Binnenmarkt habe „die Stärke und die Mittel, diesen Marathon durchzustehen“, beschwor von der Leyen die Regierungen. Die stellten sich taub. Horst Seehofer ließ keine Erntehelfer mehr ins Land. Auch dagegen protestierte die Kommissionspräsidentin vergeblich.
Nun aber versucht sie, das der Kommission zustehende Initiativrecht zurückzuerlangen. Am Donnerstag kündigte sie nicht nur ein weiteres großes Hilfspaket an, sie warnte auch erstmals Ungarn davor, die Pandemie als Vorwand für eine Demontage der Demokratie zu missbrauchen. Der Europäische Gerichtshof habe Ungarns Weigerung im Jahr 2015, Flüchtlinge aus einem gemeinsamen EU-Kontingent aufzunehmen, gerade erst für rechtswidrig erklärt. Nach Ostern, so von der Leyen, werde ein neuer Flüchtlingspakt vorgestellt. Sollte sich Ungarn wieder ausklinken, so die unmissverständliche Botschaft, werde das harte Konsequenzen haben.