Kalorien gespart – und trotzdem zugenommen
Experten warnen vor Süßstoffen als Mogelpackung, die den Stoffwechsel lahmlegen
Egal, ob Joghurt, Obstsaft, Cola oder Fruchtgummi: Bei fast zehn Prozent aller gesüßten Lebensmittel kommen mittlerweile kalorienfreie Süßstoffe zum Einsatz. Die Verbraucher erhoffen sich dadurch einen Schutz vor Übergewicht und Diabetes. Doch aktuelle Studien zeigen: Diese Hoffnungen sind trügerisch. Aber das Krebsrisiko scheint immerhin vom Tisch.
Sie warnt nicht vor Fetten und Zucker, und auch nicht vor Farb- oder Konservierungsstoffen. Doch die Bitte von Clarissa Baker-Smith, Kinderärztin und Molekularbiologin von der US-University of Maryland, fällt eindringlich aus: „Man muss künftig Lebensmittel mit Süßstoffen auch deutlich als solche kennzeichnen.“Es reiche nicht, sie schönfärberisch als „zuckerreduziert“zu verkaufen. Weil das Entscheidende dieser Lebensmittel nicht sei, was ihnen fehlt; sondern das, was ihnen beigemengt wurde. Und das seien die Süßstoffe, die man aufgrund ihrer fragwürdigen Effekte deutlich deklarieren müsste.
Man könnte das Fazit von BakerSmith als eine der kategorischen, aber letztendlich wenig begründeten Statements abtun, wie sie derzeit vielfach zu Ernährungsfragen verkündet werden. Doch die Molekularbiologin weiß, wovon sie spricht. Hat sie doch zusammen mit anderen USForschern
das komplette wissenschaftliche Datenmaterial analysiert, das im letzten Jahrzehnt zu Süßstoffen und deren Wirkung auf die Gesundheit veröffentlicht wurde. Die umfangreiche Arbeit ist jetzt im Fachblatt der American Academy of Pediatrics veröffentlicht worden, mit einem Schwerpunkt auf Kinder- und Jugendmedizin, doch sie lässt sich auch auf Erwachsene übertragen.
Tröstlich immerhin: Als potenzielle Krebserreger kann man Süßstoffe offenbar zu den Akten legen. So wurden gerade Aspartam, Saccharin, Sucralose und Cyclamat in dieser Hinsicht diskutiert, doch bei keinem von ihnen ließ sich der Verdacht erhärten. Vorausgesetzt, dass man die Stoffe nicht exzessiv konsumiert. So gilt beispielsweise Aspartam – laut Berechnungen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) – in Mengen von bis zu 40 Milligramm pro Kilo Körpergewicht als sicher, was ein 60 Kilogramm schwerer Erwachsener erst mit vier Liter aspartamsüßer Diätlimonade pro Tag überschreiten würde.
Der Konsument muss also nicht befürchten, durch Süßstoffe krebskrank zu werden. Zu viele positive Effekte erhoffen sollte er sich allerdings auch nicht. Denn ausgerechnet im Kampf gegen Diabetes und Übergewicht scheinen sie sich nur bedingt zu eignen. So enthalten Süßstoffe zwar im Unterschied zu normalem Zucker keine Kalorien. „Doch ob dies ausreicht, insgesamt die zugeführte Energiemenge zu senken, ist keinesfalls sicher“, warnt BakerSmith. Im Gegenteil. Susan Swithers von der Purdue University im USamerikanischen Indiana hat das Ernährungsverhalten von mehr als 7000 Kindern untersucht, die über einen Zeitraum von fünf Jahren entweder zuckerhaltige Softdrinks, süßstoffhaltige Softdrinks oder aber beides in ihrem Speiseplan hatten.
Im Ergebnis zeigte sich, dass alle drei Versuchsgruppen deutlich mehr Kalorien aufnahmen als eine Kontrollgruppe, in der lediglich Wasser getrunken wurde. Die meiste Energie – nämlich fast 30 Prozent mehr als bei den Wassertrinkern – gingen durch die Kehlen derjenigen, die sowohl Süßstoffe als auch Zucker verzehrten, was ja im Ernährungsalltag sehr häufig vorkommt. „Sie hatten ihren Zuckerkonsum gesteigert, obwohl sie süßstoffhaltige Getränke konsumierten“, erläutert Ernährungspsychologin Swithers.
Bleibt die Frage, warum Süßstoffe ihre Konsumenten offenbar zum Zucker verführen, anstatt sie davon abzuhalten. Die Erklärung: Sie versprechen, aber sie liefern nicht. Ihr Wesen besteht darin, dass sie süß wie Zucker schmecken, ohne dessen Energien zu liefern. Mit der Folge, dass gerade das Gehirn weiterhin nach echtem Zucker giert. Denn es braucht, wie kein anderes Organ, dessen Energien.
Ein weiterer Effekt der SüßstoffTäuschung: Der Körper schraubt immer mehr seine Zuckerverwertung zurück, weil die ja eigentlich nicht gebraucht wird. Und das macht er fortan immer, wenn er etwas Süßes schmeckt. Also auch, wenn echter Zucker ankommt. Bei Menschen, die Süßstoff gewohnt sind, erlahmt also der Stoffwechsel, wenn sie etwas Süßes essen. Dass dieses Paradox – große Zucker- und Kalorienmengen treffen auf einen Körper, der nicht auf sie eingestellt ist – zu Übergewicht und Diabetes führen kann, liegt auf der Hand.
Für Swithers und Bakers-Smith steht daher fest: Süßstoffe führen nicht wirklich aus dem Zuckerberg, unter dem die Wohlstandsgesellschaft ächzt. Die Lösung müsse sein, dass wir uns vom Süßgeschmack an sich emanzipieren, betont Swithers. Und ihre Forscherkollegin BakersSmith ergänzt: „Süßes sollte wieder die Ausnahme im Speiseplan werden und nicht mehr in jeder Mahlzeit stecken – und schon gar nicht in jedem Getränk.“Sie verfolgt diese Strategie auch schon seit einiger Zeit in ihrer eigenen Familie. Anfangs ungewohnt, hätten sich mittlerweile jedoch alle daran gewöhnt. Wichtig sei, dass man das Süße nicht verbietet, sondern sogar als etwas Besonderes, als eine Delikatesse betrachtet: „Wir sollten Süßes wieder so sehen, wie wir es früher taten: Als einen Gaumenschmaus.“