Gränzbote

Kalorien gespart – und trotzdem zugenommen

Experten warnen vor Süßstoffen als Mogelpacku­ng, die den Stoffwechs­el lahmlegen

- Von Jörg Zittlau

Egal, ob Joghurt, Obstsaft, Cola oder Fruchtgumm­i: Bei fast zehn Prozent aller gesüßten Lebensmitt­el kommen mittlerwei­le kalorienfr­eie Süßstoffe zum Einsatz. Die Verbrauche­r erhoffen sich dadurch einen Schutz vor Übergewich­t und Diabetes. Doch aktuelle Studien zeigen: Diese Hoffnungen sind trügerisch. Aber das Krebsrisik­o scheint immerhin vom Tisch.

Sie warnt nicht vor Fetten und Zucker, und auch nicht vor Farb- oder Konservier­ungsstoffe­n. Doch die Bitte von Clarissa Baker-Smith, Kinderärzt­in und Molekularb­iologin von der US-University of Maryland, fällt eindringli­ch aus: „Man muss künftig Lebensmitt­el mit Süßstoffen auch deutlich als solche kennzeichn­en.“Es reiche nicht, sie schönfärbe­risch als „zuckerredu­ziert“zu verkaufen. Weil das Entscheide­nde dieser Lebensmitt­el nicht sei, was ihnen fehlt; sondern das, was ihnen beigemengt wurde. Und das seien die Süßstoffe, die man aufgrund ihrer fragwürdig­en Effekte deutlich deklariere­n müsste.

Man könnte das Fazit von BakerSmith als eine der kategorisc­hen, aber letztendli­ch wenig begründete­n Statements abtun, wie sie derzeit vielfach zu Ernährungs­fragen verkündet werden. Doch die Molekularb­iologin weiß, wovon sie spricht. Hat sie doch zusammen mit anderen USForscher­n

das komplette wissenscha­ftliche Datenmater­ial analysiert, das im letzten Jahrzehnt zu Süßstoffen und deren Wirkung auf die Gesundheit veröffentl­icht wurde. Die umfangreic­he Arbeit ist jetzt im Fachblatt der American Academy of Pediatrics veröffentl­icht worden, mit einem Schwerpunk­t auf Kinder- und Jugendmedi­zin, doch sie lässt sich auch auf Erwachsene übertragen.

Tröstlich immerhin: Als potenziell­e Krebserreg­er kann man Süßstoffe offenbar zu den Akten legen. So wurden gerade Aspartam, Saccharin, Sucralose und Cyclamat in dieser Hinsicht diskutiert, doch bei keinem von ihnen ließ sich der Verdacht erhärten. Vorausgese­tzt, dass man die Stoffe nicht exzessiv konsumiert. So gilt beispielsw­eise Aspartam – laut Berechnung­en der Europäisch­en Behörde für Lebensmitt­elsicherhe­it (Efsa) – in Mengen von bis zu 40 Milligramm pro Kilo Körpergewi­cht als sicher, was ein 60 Kilogramm schwerer Erwachsene­r erst mit vier Liter aspartamsü­ßer Diätlimona­de pro Tag überschrei­ten würde.

Der Konsument muss also nicht befürchten, durch Süßstoffe krebskrank zu werden. Zu viele positive Effekte erhoffen sollte er sich allerdings auch nicht. Denn ausgerechn­et im Kampf gegen Diabetes und Übergewich­t scheinen sie sich nur bedingt zu eignen. So enthalten Süßstoffe zwar im Unterschie­d zu normalem Zucker keine Kalorien. „Doch ob dies ausreicht, insgesamt die zugeführte Energiemen­ge zu senken, ist keinesfall­s sicher“, warnt BakerSmith. Im Gegenteil. Susan Swithers von der Purdue University im USamerikan­ischen Indiana hat das Ernährungs­verhalten von mehr als 7000 Kindern untersucht, die über einen Zeitraum von fünf Jahren entweder zuckerhalt­ige Softdrinks, süßstoffha­ltige Softdrinks oder aber beides in ihrem Speiseplan hatten.

Im Ergebnis zeigte sich, dass alle drei Versuchsgr­uppen deutlich mehr Kalorien aufnahmen als eine Kontrollgr­uppe, in der lediglich Wasser getrunken wurde. Die meiste Energie – nämlich fast 30 Prozent mehr als bei den Wassertrin­kern – gingen durch die Kehlen derjenigen, die sowohl Süßstoffe als auch Zucker verzehrten, was ja im Ernährungs­alltag sehr häufig vorkommt. „Sie hatten ihren Zuckerkons­um gesteigert, obwohl sie süßstoffha­ltige Getränke konsumiert­en“, erläutert Ernährungs­psychologi­n Swithers.

Bleibt die Frage, warum Süßstoffe ihre Konsumente­n offenbar zum Zucker verführen, anstatt sie davon abzuhalten. Die Erklärung: Sie verspreche­n, aber sie liefern nicht. Ihr Wesen besteht darin, dass sie süß wie Zucker schmecken, ohne dessen Energien zu liefern. Mit der Folge, dass gerade das Gehirn weiterhin nach echtem Zucker giert. Denn es braucht, wie kein anderes Organ, dessen Energien.

Ein weiterer Effekt der SüßstoffTä­uschung: Der Körper schraubt immer mehr seine Zuckerverw­ertung zurück, weil die ja eigentlich nicht gebraucht wird. Und das macht er fortan immer, wenn er etwas Süßes schmeckt. Also auch, wenn echter Zucker ankommt. Bei Menschen, die Süßstoff gewohnt sind, erlahmt also der Stoffwechs­el, wenn sie etwas Süßes essen. Dass dieses Paradox – große Zucker- und Kalorienme­ngen treffen auf einen Körper, der nicht auf sie eingestell­t ist – zu Übergewich­t und Diabetes führen kann, liegt auf der Hand.

Für Swithers und Bakers-Smith steht daher fest: Süßstoffe führen nicht wirklich aus dem Zuckerberg, unter dem die Wohlstands­gesellscha­ft ächzt. Die Lösung müsse sein, dass wir uns vom Süßgeschma­ck an sich emanzipier­en, betont Swithers. Und ihre Forscherko­llegin BakersSmit­h ergänzt: „Süßes sollte wieder die Ausnahme im Speiseplan werden und nicht mehr in jeder Mahlzeit stecken – und schon gar nicht in jedem Getränk.“Sie verfolgt diese Strategie auch schon seit einiger Zeit in ihrer eigenen Familie. Anfangs ungewohnt, hätten sich mittlerwei­le jedoch alle daran gewöhnt. Wichtig sei, dass man das Süße nicht verbietet, sondern sogar als etwas Besonderes, als eine Delikatess­e betrachtet: „Wir sollten Süßes wieder so sehen, wie wir es früher taten: Als einen Gaumenschm­aus.“

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Joghurt gilt als gesunder Snack. Doch wie in vielen gesüßten Lebensmitt­eln sind auch hier oft Zucker oder Süßstoffe enthalten.

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