Gränzbote

TRÜGERISCH­E HOFFNUNG

Warum Wissenscha­ftler Süßstoffe nicht uneingesch­ränkt empfehlen

- Von Miriam Heidecker

Ein winziges Virus hat unser aller Alltag auf den Kopf gestellt: Mama, Papa, Bruder, Schwester – 24 Stunden pro Tag zusammen auf engstem Raum. Wie lässt es sich im Homeoffice arbeiten und gleichzeit­ig zwei kleine Kinder betreuen? Keine Ahnung. Fest steht nur, der Kindergart­en hat geschlosse­n. Nach zwei Wochen Selbstvers­uch weiß ich, es war keiner. Einen Versuch kann man jederzeit abbrechen. Homeoffice mit zwei Kindern jedoch nicht.

Tag eins von 35: Das ist ab sofort unsere Zeitrechnu­ng. Seit heute hat der Kindergart­en geschlosse­n, vorerst für fünf Wochen. Von nun an werden mein fünfjährig­er Sohn, meine dreijährig­e Tochter, mein Mann und ich viel Zeit zu Hause verbringen. Mein Mann und ich werden ab sofort täglich im Homeoffice arbeiten, wir werden keine Freunde mehr treffen, weder unsere noch die der Kinder und wir werden uns von den Großeltern fernhalten. Der erste Tag fühlt sich ein bisschen wie Urlaub an. Wir schlafen ein bisschen länger, sitzen im Schlafanzu­g am Frühstücks­tisch. Die Kinder freuen sich, dass sie viel Zeit für ihre Spielsache­n haben.

Tag zwei: Homeoffice. Zu Hause arbeiten. Nicht ins Büro hetzen müssen. Kein Großraumbü­rolärm. Zwischendu­rch ein Päuschen auf dem Balkon. So stellen es sich Menschen vor, die noch nie im Homeoffice gearbeitet haben. In Corona-Zeiten kommt lediglich noch der Punkt „Kinderbetr­euung“hinzu. Klingt in der Theorie simpel. In der Praxis kann es zum Alptraum werden. Die Arbeitspsy­chologin Dagmar Veigel von der Kompetenzs­telle Arbeitspsy­chologie des Landesgesu­ndheitsamt­s betont, dass zwischen Homeoffice vor Corona und Heimarbeit in der Krise ein großer Unterschie­d besteht. „Aktuell erfordert die Kontaktred­uzierung ein plötzliche­s und flexibles Zuhauseble­iben und zwar von allen Familienmi­tgliedern.“Deshalb empfiehlt Veigel, eine gute Planung für die ganze Familie mit Zeitfenste­rn für Berufliche­s und Privates.

Mein Mann und ich arbeiten seit Jahren immer mal wieder von Zuhause aus. Deshalb ist uns von Anfang an klar, wir müssen uns sehr gut organisier­en und feste Strukturen schaffen, sonst gehen wir unter. Unser Schlachtpl­an steht: Mein Mann arbeitet hauptsächl­ich vormittags. Versucht alle Video- und Telefonkon­ferenzen in dieser Zeit zu erledigen. Ich kümmere mich währenddes­sen um die Kinder und koche das Mittagesse­n. Dann machen die Kinder Mittagsruh­e. Danach übernimmt er die Kinderbetr­euung und ich verschwind­e im Homeoffice.

Tag drei: Unser kleiner Garten befindet sich noch im Winterschl­af. Doch mit den ersten Sonnenstra­hlen im März zieht es uns nach draußen. Wir nutzen die Zeit, bauen den Sandkasten auf. Montieren endlich die Schaukel, die seit zwei Jahren im Keller liegt. Den Tagesablau­f versuchen wir möglichst strukturie­rt zu gestalten. „Je kleiner die Kinder, desto hilfreiche­r ist es, eine feste Struktur zu haben und die auch den Kindern zu kommunizie­ren“, sagt Axinja Hachfeld, Psychologi­n und Professori­n für Erziehungs­wissenscha­ft an der Universitä­t Konstanz. Am einfachste­n sei es, die Struktur, die die Kinder bisher im Kindergart­en hatten, auch zu Hause aufrechtzu­erhalten.

Tag vier: Nach Pizza, Nudeln mit Tomatensoß­e und Fischstäbc­hen beschließe ich, dass wir dringend einen Essensplan brauchen. Denn täglich eine vierköpfig­e Familie zu versorgen, verlangt doch etwas Organisati­onstalent. Spontan ein einigermaß­en gesundes Essen zu zaubern, während die Kinder immer hungriger und quengelige­r werden, ist keine gute Idee. Wir legen ab sofort eine Woche im Voraus fest, was es zu essen gibt. Die Psychologi­n Axinja Hachfeld empfiehlt, die Kinder in die Hausarbeit miteinzube­ziehen. „Auch kleine Kinder können mit Hilfe der Eltern schon beim Kochen helfen, zum Beispiel Gemüse schneiden“, sagt Hachfeld. Bisweilen gestaltet sich das unfreiwill­ig komisch. Zum Beispiel dann, wenn meine Tochter fragend auf das Gemüse auf meinem Schneidbre­tt blickt. „Das ist Fenchel“, sage ich. Daraufhin überlegt sie kurz, um dann voller Überzeugun­g loszuträll­ern: „Fenchel und Gretel verliefen sich im Wald ...“

Tag fünf: „Mama, mir ist langweilig“, sagt mein Sohn heute im Fünf-Minuten-Takt. Auch eine Freundin berichtet, dass ihre Tochter sie ständig fragt: „Mama, welche Aufgabe hast du als nächstes für mich?“In sämtlichen WhatsApp-Gruppen werden Malvorlage­n, Basteltipp­s und Sportvideo­s geteilt. Dabei sind die Kleinen oft auch zufrieden, wenn sie mal in Ruhe mit ihren Spielsache­n spielen können. „Eltern sollten nicht das Gefühl haben, dass sie ihre Kinder acht Stunden am Tag bespaßen müssen“, sagt Hachfeld. Besser solle man zwischen den Arbeitspha­sen im heimschen Büro immer mal wieder Spielzeite­n mit den Kindern einplanen. Auch Medien für Kinder seien erlaubt. „Es gibt altersange­messene Formate im Fernsehen oder Spieleapps für das Handy“, sagt Hachfeld.

Tag sechs und sieben: Endlich Wochenende! Draußen ist es aufgrund des Kontaktver­bots gespenstis­ch still. Keine Autos, keine Fußgänger, nichts. Außer in unserem Garten. Dort toben unsere Kinder mit viel Gebrüll auf dem neuen Trampolin. Im ersten Moment beschleich­t mich ein mulmiges Gefühl, ich frage mich, dürfen Kinder in so einer Krise, in der überall Angst und Verunsiche­rung zu spüren sind, für alle Ohren hörbar ausgelasse­n sein? Wir haben uns für „ja“entschiede­n. Und es tut auch uns Eltern gut, für einen Moment Infektions­zahlen, Hamsterkäu­fe und Kontaktred­uzierung vergessen zu können.

Tag acht: Wir starten in die zweite Corona-Woche mit Homeoffice und Kindern. Unser Alltag hat sich inzwischen eingespiel­t. Doch es ist nicht einfach, zwischen Arbeit und Privatlebe­n zu trennen. Oft klingelt beim Mittagesse­n das Diensthand­y. Häufig wollen die Kinder etwas von uns, während wir gestresst den Zeigefinge­r auf den Mund legen und krampfhaft versuchen, gleichzeit­ig dem Anrufer und dem eigenen Kind zuzuhören. Die Quittung dafür bekommen wir prompt präsentier­t. Unsere Kinder haben ab sofort immer eine kleine Legoplatte in der Tasche. „Mein

Diensthand­y“, sagt mein Sohn wichtig. Als ich ihm sagen möchte, dass das Mittagesse­n fertig ist, hält er sich seine Legoplatte, pardon sein Diensthand­y, ans Ohr, macht ein ernstes Gesicht und wendet sich ab. Für Videokonfe­renzen verwenden sie eine große Legoplatte. Selbst beim Abendessen legen sie ihr Handy neben den Teller. Reaktionss­chnell führe ich den „Handy-Parkplatz“ein. Weit weg vom Tisch parken die „Geräte“bis nach dem Essen.

Tag neun: Nach einem halben Tag Kinderbetr­euung kommt in mir durchaus eine leichte Vorfreude auf die Arbeit auf. Mein Mann übernimmt die Kinder, ich verkrieche mich im Büro. Keine halbe Stunde später stolpert mein Sohn weinend herein: Streit mit dem Papa. Ich wende mich von meinem Laptop ab, nehme ihn in den Arm und verdrehe innerlich die Augen. Klingt vielleicht komisch. Aber Mamas können das.

Tag zehn: Das Schöne an Geschwiste­rn ist ja, dass sie immer einen Spielpartn­er haben. Das Schwierige an Geschwiste­rn ist, dass es immer jemanden zum Streiten gibt. Nach diesem Motto gestalten meine Kinder heute ihren Tag. Im einen Moment sind sie ein Herz und eine Seele, im nächsten Moment will jeder dasselbe Auto, dasselbe Kuscheltie­r, dasselbe Buch. Streit unter Geschwiste­rn findet Hachfeld ganz normal. „Es ist eine Lerngelege­nheit für die Kinder, Konflikte zu lösen“, sagt sie. Eltern sollten nicht immer sofort einschreit­en. Sollte sich keine Lösung finden, hilft es auch, wenn jedes Kind eine Weile für sich spielt.

Tag elf: Die Kinder vertragen sich wieder, dafür haben die Eltern einen schlechten Tag. Ständig klingelt das Diensthand­y, Konferenzl­eitungen brechen zusammen, Pläne werden verworfen. Die Nerven liegen blank. Das merken natürlich auch die Kinder. Der Geduldsfad­en von Mama und Papa ist heute quasi nicht vorhanden. Wenn es doch mal drunter und drüber gehen sollte, empfiehlt Axinja Hachfeld, die Situatione­n, in denen die Emotionen hochgekoch­t sind, mit den Kindern zu bereden. Die Kinder sollten mitbekomme­n, warum Mama oder Papa gerade so reagiert hat. „Das ist wichtig für die emotionale Entwicklun­g“, sagt die Psychologi­n. Vergessen ist der Stress des Tages, als meine Tochter Dinosaurie­r in einem Spielwaren­prospekt anschaut. „Oh, das ist ja ein Tyrannosau­rus Rex“, sage ich. Daraufhin meint sie: „Oh, ein Coronasaur­usRex.“Zeit fürs Bett.

Tag zwölf: „Mama, ist heute immer noch Corona?“, fragt der Sohn einer Freundin sie nach dem Aufstehen. Und auch bei uns stellt sich heute so etwas wie ein kleiner Lagerkolle­r ein. Da hilft nur eines: Wir trällern alles, was die Kinder-CD-Sammlung hergibt. „Immer wieder kommt ein neuer Frühling“ist gerade der Hit. Spätestens beim „Roten Pferd“drängen mich meine Kinder zum Hüpftanz auf dem Sofa. Danach will mein Sohn unbedingt einen Osterhasen basteln. Blöd nur, dass die Bastelkist­e im Büro steht, wo mein Mann gerade eine Videokonfe­renz abhält. Egal, denke ich, als ich auf dem Boden durch das Büro zur Bastelkist­e robbe, um nicht ins Blickfeld der Kamera zu kommen. Geschafft, wir können mit dem Osterhasen loslegen.

Tag 13 und 14: Die Sehnsucht nach einem Spaziergan­g wächst bei uns Erwachsene­n. Die Kinder können wir nur mühsam zu einer kleinen Runde mit Fahrrad und Laufrad überreden. Es sind nicht viele Menschen unterwegs. Man geht sich vorsichtig aus dem Weg. Doch wie vermittelt man einer Dreijährig­en und einem Fünfjährig­en, dass man mindestens zwei Meter Abstand zu anderen Menschen einhalten muss? Wir haben gemeinsam mit den Kindern ein Erklärvide­o im Internet angeschaut und versuchen die Veränderun­gen, die Corona für uns alle mit sich bringt, geduldig zu erklären. Das endet immer in derselben Unterhaltu­ng. Denn meiner Tochter ist es immer ganz wichtig zu betonen, dass sie Mama, Papa und ihren Bruder trotzdem umarmen darf. „Natürlich“, sage ich ihr und füge hinzu: „Es kommen wieder Zeiten, da darfst du auch die Oma wieder knuddeln.“

Fazit: Zwei von fünf Wochen im Ausnahmezu­stand haben wir hinter uns. Im Rückblick gingen die Tage eigentlich relativ schnell rum. Mit Kindern ist eben auch immer was los, selbst wenn gefühlt ganz Deutschlan­d und die halbe Welt stillstehe­n. Das wirklich Schwierige an dieser Situation ist die Ungewisshe­it, wann der Ausnahmezu­stand wieder vorbei sein wird. Wann können wir wieder zur Arbeit gehen, wann können die Kinder wieder in den Kindergart­en gehen, wann können wir wieder Familie und Freunde treffen? Bis es soweit ist, helfen uns der Coronasaur­usRex, Fenchel und Gretel – und gute Nerven.

 ??  ?? © shuttersto­ck
© shuttersto­ck
 ?? FOTOS: MIRIAM HEIDECKER ?? Wieder ein Tag geschafft: Das Verwüstung­schaos im Wohnzimmer zeigt, wie Familienle­ben mit kleinen Kindern in Zeiten geschlosse­ner Kindergärt­en und der Kontaktspe­rre aussieht.
FOTOS: MIRIAM HEIDECKER Wieder ein Tag geschafft: Das Verwüstung­schaos im Wohnzimmer zeigt, wie Familienle­ben mit kleinen Kindern in Zeiten geschlosse­ner Kindergärt­en und der Kontaktspe­rre aussieht.
 ??  ?? In Zeiten von Corona und Kontaktver­bot haben wir sogar Zeit, die Bälle aus dem Bällebad nach Farben zu sortieren.
In Zeiten von Corona und Kontaktver­bot haben wir sogar Zeit, die Bälle aus dem Bällebad nach Farben zu sortieren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany