TRÜGERISCHE HOFFNUNG
Warum Wissenschaftler Süßstoffe nicht uneingeschränkt empfehlen
Ein winziges Virus hat unser aller Alltag auf den Kopf gestellt: Mama, Papa, Bruder, Schwester – 24 Stunden pro Tag zusammen auf engstem Raum. Wie lässt es sich im Homeoffice arbeiten und gleichzeitig zwei kleine Kinder betreuen? Keine Ahnung. Fest steht nur, der Kindergarten hat geschlossen. Nach zwei Wochen Selbstversuch weiß ich, es war keiner. Einen Versuch kann man jederzeit abbrechen. Homeoffice mit zwei Kindern jedoch nicht.
Tag eins von 35: Das ist ab sofort unsere Zeitrechnung. Seit heute hat der Kindergarten geschlossen, vorerst für fünf Wochen. Von nun an werden mein fünfjähriger Sohn, meine dreijährige Tochter, mein Mann und ich viel Zeit zu Hause verbringen. Mein Mann und ich werden ab sofort täglich im Homeoffice arbeiten, wir werden keine Freunde mehr treffen, weder unsere noch die der Kinder und wir werden uns von den Großeltern fernhalten. Der erste Tag fühlt sich ein bisschen wie Urlaub an. Wir schlafen ein bisschen länger, sitzen im Schlafanzug am Frühstückstisch. Die Kinder freuen sich, dass sie viel Zeit für ihre Spielsachen haben.
Tag zwei: Homeoffice. Zu Hause arbeiten. Nicht ins Büro hetzen müssen. Kein Großraumbürolärm. Zwischendurch ein Päuschen auf dem Balkon. So stellen es sich Menschen vor, die noch nie im Homeoffice gearbeitet haben. In Corona-Zeiten kommt lediglich noch der Punkt „Kinderbetreuung“hinzu. Klingt in der Theorie simpel. In der Praxis kann es zum Alptraum werden. Die Arbeitspsychologin Dagmar Veigel von der Kompetenzstelle Arbeitspsychologie des Landesgesundheitsamts betont, dass zwischen Homeoffice vor Corona und Heimarbeit in der Krise ein großer Unterschied besteht. „Aktuell erfordert die Kontaktreduzierung ein plötzliches und flexibles Zuhausebleiben und zwar von allen Familienmitgliedern.“Deshalb empfiehlt Veigel, eine gute Planung für die ganze Familie mit Zeitfenstern für Berufliches und Privates.
Mein Mann und ich arbeiten seit Jahren immer mal wieder von Zuhause aus. Deshalb ist uns von Anfang an klar, wir müssen uns sehr gut organisieren und feste Strukturen schaffen, sonst gehen wir unter. Unser Schlachtplan steht: Mein Mann arbeitet hauptsächlich vormittags. Versucht alle Video- und Telefonkonferenzen in dieser Zeit zu erledigen. Ich kümmere mich währenddessen um die Kinder und koche das Mittagessen. Dann machen die Kinder Mittagsruhe. Danach übernimmt er die Kinderbetreuung und ich verschwinde im Homeoffice.
Tag drei: Unser kleiner Garten befindet sich noch im Winterschlaf. Doch mit den ersten Sonnenstrahlen im März zieht es uns nach draußen. Wir nutzen die Zeit, bauen den Sandkasten auf. Montieren endlich die Schaukel, die seit zwei Jahren im Keller liegt. Den Tagesablauf versuchen wir möglichst strukturiert zu gestalten. „Je kleiner die Kinder, desto hilfreicher ist es, eine feste Struktur zu haben und die auch den Kindern zu kommunizieren“, sagt Axinja Hachfeld, Psychologin und Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Konstanz. Am einfachsten sei es, die Struktur, die die Kinder bisher im Kindergarten hatten, auch zu Hause aufrechtzuerhalten.
Tag vier: Nach Pizza, Nudeln mit Tomatensoße und Fischstäbchen beschließe ich, dass wir dringend einen Essensplan brauchen. Denn täglich eine vierköpfige Familie zu versorgen, verlangt doch etwas Organisationstalent. Spontan ein einigermaßen gesundes Essen zu zaubern, während die Kinder immer hungriger und quengeliger werden, ist keine gute Idee. Wir legen ab sofort eine Woche im Voraus fest, was es zu essen gibt. Die Psychologin Axinja Hachfeld empfiehlt, die Kinder in die Hausarbeit miteinzubeziehen. „Auch kleine Kinder können mit Hilfe der Eltern schon beim Kochen helfen, zum Beispiel Gemüse schneiden“, sagt Hachfeld. Bisweilen gestaltet sich das unfreiwillig komisch. Zum Beispiel dann, wenn meine Tochter fragend auf das Gemüse auf meinem Schneidbrett blickt. „Das ist Fenchel“, sage ich. Daraufhin überlegt sie kurz, um dann voller Überzeugung loszuträllern: „Fenchel und Gretel verliefen sich im Wald ...“
Tag fünf: „Mama, mir ist langweilig“, sagt mein Sohn heute im Fünf-Minuten-Takt. Auch eine Freundin berichtet, dass ihre Tochter sie ständig fragt: „Mama, welche Aufgabe hast du als nächstes für mich?“In sämtlichen WhatsApp-Gruppen werden Malvorlagen, Basteltipps und Sportvideos geteilt. Dabei sind die Kleinen oft auch zufrieden, wenn sie mal in Ruhe mit ihren Spielsachen spielen können. „Eltern sollten nicht das Gefühl haben, dass sie ihre Kinder acht Stunden am Tag bespaßen müssen“, sagt Hachfeld. Besser solle man zwischen den Arbeitsphasen im heimschen Büro immer mal wieder Spielzeiten mit den Kindern einplanen. Auch Medien für Kinder seien erlaubt. „Es gibt altersangemessene Formate im Fernsehen oder Spieleapps für das Handy“, sagt Hachfeld.
Tag sechs und sieben: Endlich Wochenende! Draußen ist es aufgrund des Kontaktverbots gespenstisch still. Keine Autos, keine Fußgänger, nichts. Außer in unserem Garten. Dort toben unsere Kinder mit viel Gebrüll auf dem neuen Trampolin. Im ersten Moment beschleicht mich ein mulmiges Gefühl, ich frage mich, dürfen Kinder in so einer Krise, in der überall Angst und Verunsicherung zu spüren sind, für alle Ohren hörbar ausgelassen sein? Wir haben uns für „ja“entschieden. Und es tut auch uns Eltern gut, für einen Moment Infektionszahlen, Hamsterkäufe und Kontaktreduzierung vergessen zu können.
Tag acht: Wir starten in die zweite Corona-Woche mit Homeoffice und Kindern. Unser Alltag hat sich inzwischen eingespielt. Doch es ist nicht einfach, zwischen Arbeit und Privatleben zu trennen. Oft klingelt beim Mittagessen das Diensthandy. Häufig wollen die Kinder etwas von uns, während wir gestresst den Zeigefinger auf den Mund legen und krampfhaft versuchen, gleichzeitig dem Anrufer und dem eigenen Kind zuzuhören. Die Quittung dafür bekommen wir prompt präsentiert. Unsere Kinder haben ab sofort immer eine kleine Legoplatte in der Tasche. „Mein
Diensthandy“, sagt mein Sohn wichtig. Als ich ihm sagen möchte, dass das Mittagessen fertig ist, hält er sich seine Legoplatte, pardon sein Diensthandy, ans Ohr, macht ein ernstes Gesicht und wendet sich ab. Für Videokonferenzen verwenden sie eine große Legoplatte. Selbst beim Abendessen legen sie ihr Handy neben den Teller. Reaktionsschnell führe ich den „Handy-Parkplatz“ein. Weit weg vom Tisch parken die „Geräte“bis nach dem Essen.
Tag neun: Nach einem halben Tag Kinderbetreuung kommt in mir durchaus eine leichte Vorfreude auf die Arbeit auf. Mein Mann übernimmt die Kinder, ich verkrieche mich im Büro. Keine halbe Stunde später stolpert mein Sohn weinend herein: Streit mit dem Papa. Ich wende mich von meinem Laptop ab, nehme ihn in den Arm und verdrehe innerlich die Augen. Klingt vielleicht komisch. Aber Mamas können das.
Tag zehn: Das Schöne an Geschwistern ist ja, dass sie immer einen Spielpartner haben. Das Schwierige an Geschwistern ist, dass es immer jemanden zum Streiten gibt. Nach diesem Motto gestalten meine Kinder heute ihren Tag. Im einen Moment sind sie ein Herz und eine Seele, im nächsten Moment will jeder dasselbe Auto, dasselbe Kuscheltier, dasselbe Buch. Streit unter Geschwistern findet Hachfeld ganz normal. „Es ist eine Lerngelegenheit für die Kinder, Konflikte zu lösen“, sagt sie. Eltern sollten nicht immer sofort einschreiten. Sollte sich keine Lösung finden, hilft es auch, wenn jedes Kind eine Weile für sich spielt.
Tag elf: Die Kinder vertragen sich wieder, dafür haben die Eltern einen schlechten Tag. Ständig klingelt das Diensthandy, Konferenzleitungen brechen zusammen, Pläne werden verworfen. Die Nerven liegen blank. Das merken natürlich auch die Kinder. Der Geduldsfaden von Mama und Papa ist heute quasi nicht vorhanden. Wenn es doch mal drunter und drüber gehen sollte, empfiehlt Axinja Hachfeld, die Situationen, in denen die Emotionen hochgekocht sind, mit den Kindern zu bereden. Die Kinder sollten mitbekommen, warum Mama oder Papa gerade so reagiert hat. „Das ist wichtig für die emotionale Entwicklung“, sagt die Psychologin. Vergessen ist der Stress des Tages, als meine Tochter Dinosaurier in einem Spielwarenprospekt anschaut. „Oh, das ist ja ein Tyrannosaurus Rex“, sage ich. Daraufhin meint sie: „Oh, ein CoronasaurusRex.“Zeit fürs Bett.
Tag zwölf: „Mama, ist heute immer noch Corona?“, fragt der Sohn einer Freundin sie nach dem Aufstehen. Und auch bei uns stellt sich heute so etwas wie ein kleiner Lagerkoller ein. Da hilft nur eines: Wir trällern alles, was die Kinder-CD-Sammlung hergibt. „Immer wieder kommt ein neuer Frühling“ist gerade der Hit. Spätestens beim „Roten Pferd“drängen mich meine Kinder zum Hüpftanz auf dem Sofa. Danach will mein Sohn unbedingt einen Osterhasen basteln. Blöd nur, dass die Bastelkiste im Büro steht, wo mein Mann gerade eine Videokonferenz abhält. Egal, denke ich, als ich auf dem Boden durch das Büro zur Bastelkiste robbe, um nicht ins Blickfeld der Kamera zu kommen. Geschafft, wir können mit dem Osterhasen loslegen.
Tag 13 und 14: Die Sehnsucht nach einem Spaziergang wächst bei uns Erwachsenen. Die Kinder können wir nur mühsam zu einer kleinen Runde mit Fahrrad und Laufrad überreden. Es sind nicht viele Menschen unterwegs. Man geht sich vorsichtig aus dem Weg. Doch wie vermittelt man einer Dreijährigen und einem Fünfjährigen, dass man mindestens zwei Meter Abstand zu anderen Menschen einhalten muss? Wir haben gemeinsam mit den Kindern ein Erklärvideo im Internet angeschaut und versuchen die Veränderungen, die Corona für uns alle mit sich bringt, geduldig zu erklären. Das endet immer in derselben Unterhaltung. Denn meiner Tochter ist es immer ganz wichtig zu betonen, dass sie Mama, Papa und ihren Bruder trotzdem umarmen darf. „Natürlich“, sage ich ihr und füge hinzu: „Es kommen wieder Zeiten, da darfst du auch die Oma wieder knuddeln.“
Fazit: Zwei von fünf Wochen im Ausnahmezustand haben wir hinter uns. Im Rückblick gingen die Tage eigentlich relativ schnell rum. Mit Kindern ist eben auch immer was los, selbst wenn gefühlt ganz Deutschland und die halbe Welt stillstehen. Das wirklich Schwierige an dieser Situation ist die Ungewissheit, wann der Ausnahmezustand wieder vorbei sein wird. Wann können wir wieder zur Arbeit gehen, wann können die Kinder wieder in den Kindergarten gehen, wann können wir wieder Familie und Freunde treffen? Bis es soweit ist, helfen uns der CoronasaurusRex, Fenchel und Gretel – und gute Nerven.