Sammlung aus der Krise
Stadtarchiv Tuttlingen sammelt Dokumente oder Fotos aus der Krise für Nachfolgegenerationen
Stadtarchiv sammelt Dokumente und Fotos für die Nachfolgegeneration.
- Von Hundert auf Null. Und jetzt in Trippelschritten wieder zurück. Die Corona-Krise hat zu radikalen Einschnitten im gesellschaftlichen Leben geführt. Jeder sehnt sich nach dem Normalzustand und mag Sorgen lieber auf die Seite schieben, die vergangenen Monate vielleicht sogar vergessen. Aber gerade, weil diese Zeit so prägend ist, rufen immer mehr Stadtarchive auf, Dokumente oder Fotos in der Krise aufzubewahren und für Nachfolgegenerationen zu sammeln. Für eine Dokumentation sei es zwar noch zu früh, erklärt Tuttlingens Stadtarchivar Alexander Röhm im Interview mit Volontärin Birga Woytowicz. Aber wer das Stadtarchiv unterstützen möchte, kann jetzt schon damit anfangen.
Wann waren Sie sicher, dass die Pandemie von historischer Bedeutung ist?
Nach der Fasnet, in der ersten Märzwoche. Da haben meine Kollegen und ich uns das erste Mal zusammengesetzt und beschlossen, einen Corona-Ordner mit Zeitungsausschnitten anzulegen. Um diese Zeit nahmen die Zeitungsberichte deutlich zu. Daran kann man gut erkennen, wie groß ein Thema wird. Zwei bis drei Wochen später haben wir angefangen, zusätzliche Informationen zu archivieren. Zum Beispiel die Berichte vom Landkreis. Wir haben auch die Kollegen aus anderen Ämtern gebeten, extra Corona-Akten anzulegen. Der Kommunale Ordnungsdienst zum Beispiel oder die Öffentlichkeitsarbeit werden da vermutlich mehr anlegen als das Bauamt.
Die Behörden sammeln schon. Aber gerade sind ja alle betroffen. Privatpersonen, Unternehmen, Vereine. Was können all diese Akteure einreichen, um die Krise zu dokumentieren?
Mails mit Behörden oder Ärzten, Briefe und Korrespondenzen wie zum Beispiel die Briefaktionen bei den Seniorenheimen, Infobriefe von Firmen und Schulen. Auch digitale Chatverläufe, Tagebücher oder Blogeinträge sind interessant. Dazu kommen Protokolle von Sitzungen oder Terminkalender, in denen alles durchgestrichen wurde. Plakate und Hinweisschilder aus den Geschäften sind ebenso denkbar. Außerdem freuen wir uns über Fotos oder Videos von leergeräumten Klopapierregalen oder leeren Straßen. Hinzu kommen noch Objekte wie selbstgenähte Masken oder Bilder, die in dieser Zeit entstanden sind. Alles, was zeigt, dass irgendetwas anders ist als normal, kann man aufbewahren. Und zwar von Anfang bis Ende. Bislang ist noch nicht abzusehen, wie lange die Krise noch anhält. Deswegen ist es jetzt zu früh, etwas einzureichen. Wir müssen das Ende dieser Krise erst einmal abwarten und dann einen großen Aufruf machen. Dies ist damit zu begründen, dass wir ja den gesamten Verlauf dieser Krise abbilden wollen.
Aber um später all das einreichen zu können, lohnt es sich vermutlich, jetzt schon einmal vorzusortieren. Gerade, wo wir so viele Bilder mit dem Handy machen und auf der Speicherkarte immer mal wieder Platz machen. Wie müssen all diese Daten denn aufbereitet sein, damit sie brauchbar sind für das Archiv?
Am wichtigsten ist das Datum. Damit ich weiß, wann zum Beispiel ein Foto entstanden ist. Den konkreten Ort möchte vielleicht nicht jeder preisgeben, wenn es eine Privatadresse ist. Hilfreich ist so eine Information aber schon, um die Sachen verorten zu können. Stattdessen könnte man zum Beispiel „Wohnung“schreiben.
Was passiert mit all dem Material?
Zunächst müssen wir es sichten. Wir können keine 10 000 Fotos annehmen. Da müssen wir aussortieren und ein gutes Maß zwischen Quantität und Qualität finden. Man kann seine Daten natürlich auch anonymisiert übergeben. Mit jeder Person, die uns etwas übergibt, wird vertraglich geregelt, wie die Daten behandelt werden sollen. Generell gilt bei Akten eine 30-jährige Sperrfrist. Erst ab 2051 sind die Unterlagen öffentlich und frei für Forscher und Interessierte. Nachdem wir die Sachen gesichtet haben, werden diese verzeichnet. Physische Unterlagen müssen wir zudem von Klammern, Tackernadeln und Klarsichtfolien befreien, weil es das Papier schädigen kann.
Da kommt eine Menge Arbeit auf Sie zu...
Das geht tatsächlich nicht mal ebenso nebenbei. Aber es ist ja auch unsere Aufgabe, das Zeitgeschehen zu dokumentieren. Die Zeitdokumente heute sind die historischen Quellen von morgen. Wir überlegen derzeit mit dem Museum, wie wir diese Arbeit aufziehen wollen. Vielleicht über ein eigenes Projekt. Denkbar wäre, zusätzlich Interviews mit Zeitzeugen zu führen. Zum Beispiel mit einem Arzt, einem Mitarbeiter des KOD oder einem Erkrankten. Derzeit ist es wie gesagt noch zu früh. Frühestens nächstes Jahr kann man so ein Projekt vielleicht starten.
Was soll Nachfolgegenerationen durch die Archivierung mitgegeben werden?
Die Archivalien sollen einmal zeigen, wie diese Krise wahrgenommen wurde. Man wird wahrscheinlich erkennen, dass der Normalmodus plötzlich abbricht, all die Selbstverständlichkeiten und gesellschaftlichen Routinen, die man vorher hatte. Ich bin kein Orakel. Aber hoffentlich wird man sehen, dass diese Krise möglichst zeitnah überwunden wurde.