Gränzbote

„Hier ist Gregor, Mutter tot“

Wie die Familie von Gisela A., die mutmaßlich dem Mord eines Pflegers zum Opfer gefallen ist, die Tragödie erlebt hat

- Von Regina Braungart

SPAICHINGE­N/MÜNCHEN - Der Gedanke, dass seine Mutter diesem Menschen ausgeliefe­rt gewesen war, der dort im Schwurgeri­chtssaal in München vielleicht zwei Meter entfernt sitzt, der ist so unerträgli­ch, dass der Sohn ihn schnell zur Seite schiebt. Dass ein Hilfspfleg­er mit ein paar Wochen Ausbildung

leben zusammen in ihrem Häuschen, das sie sich vom Mund abgespart hatten, in dem sie ihre beiden Kinder aufgezogen haben. Nach einem Leben, das ihnen nichts geschenkt hat. Kriegsgene­ration, Preußen und Ostpommern, sie mit 16 vor der russischen Armee aus der Heimat geflohen. Sie freut sich ihr Leben lang diebisch, dass sie denen unbeschade­t mit dem Fahrrad entwischt war.

Er wird noch als Jugendlich­er in Hitlers Armee nach Frankreich geschickt. Was dort passiert ist –

seine und verletzt die Familie sehr. Die Familie ist wichtig für Gisela A.: Noch am Freitag vor ihrem plötzliche­n Tod trifft man sich, lacht, singt zusammen, isst süße Stückchen. Mit Kindern und Enkeln zusammen fühlt sich Gisela A. wohl. „Sie mochte es am liebsten, wenn alle um sie rum waren“, sagt der Sohn.

Dabei hatte es noch vor ein paar Monaten düster ausgesehen, nachdem sie gestürzt war, und ihr Mann wahrschein­lich im Versuch, ihr aufzuhelfe­n, gleich zusammen mit ihr. Dann konnte auch er nicht mehr gehen, beide mussten nach dem Krankenhau­s auch wegen Renovierun­gen in Kurzzeitpf­lege und dann ins Pflegeheim. Aber sie will zurück in ihr Häuschen, unbedingt. Ihr Mann bleibt bis zu seinem Tod, nur wenige Monate nach seiner Frau, im Heim. Tochter, 63, und Sohn, 68, mitsamt ihren eigenen Familien wollen das ermögliche­n. Über eine Vermittlun­gsagentur im Bodenseekr­eis engagiert die Familie 24-Stunden-Pflege aus Polen. Man wollte eben alles korrekt machen und nicht inoffiziel­le Pflegerinn­en anstellen, wie es wegen des riesigen Bedarfs viele machen. Das sagt die Tochter Ende Mai vor Gericht aus, als es um den „Fall“ihrer Mutter geht.

Dass diese Agenturen aber offenbar keinerlei tiefer gehender Kontrolle unterworfe­n sind, dass die Arbeitsver­träge in Polen mit Partnerage­nturen geschlosse­n werden, dass es lediglich darum geht, die Leute nach einem 120-Stunden-Schnellkur­s bei der Stange zu halten, zum Beispiel durch Konvention­alstrafen, dass es letztendli­ch um einen Anteil für die Agenturen an dem für eine Familie zwar stattliche­n, aber für eine 24-Stunden-Pflege lächerlich­en Gehalt geht – das alles wird der Familie von Gisela A. erst bewusst, als Anfang 2018 klar wird: Ihre Mutter und Oma ist keines natürliche­n Todes gestorben.

Vier, sechs Wochen je sind zunächst zwei Pflegerinn­en aus Polen da. Alles klappt, und überhaupt, so der Sohn, dürfe man nicht alle über einen Kamm scheren, auch wenn das System der Pflege selbst keine Sicherheit biete. Er kenne zahlreiche Familien, für die die zugewandte­n Pflegerinn­en ein echter Segen seien.

Aber Leben und Tod und Würde, das dürfe, so sagt er, keine Frage des individuel­len Charakters sein. Beginnend bei der Ausbildung, über die

Frage nach einer ordentlich­en Personalak­te mit lückenlose­m Lebenslauf und polizeilic­hem Führungsze­ugnis, einer Kontrolle der Agenturen, die nicht jede isoliert arbeiten dürften, um solche Muster zu erkennen, bis hin zu einer besseren Bezahlung der Pflegenden für ihre anstrengen­de Arbeit.

Bei dem damals 35-jährigen Grzegorz W. sind sie an jemanden geraten, bei dem die Tochter sofort dachte, wie dieser für die Mutter sorgen solle: Ein 162 Zentimeter kleiner Mann mit über 150 Kilo, der schon augenschei­nlich nicht für sich selbst sorgen kann, wie die Tochter Ende Mai vor Gericht in München aussagt. Tochter und Sohn haben ihn ohnehin nur übergangsw­eise akzeptiert, weil sie eigentlich keinen Mann zur Pflege wollen.

Grzegorz W. reist mit dem Bus am Montag nach der Familienzu­sammenkunf­t an und wird von Gisela A.s Enkelin in Schwenning­en abgeholt. Die bisherige Pflegerin ist noch bis zum nächsten Tag da, weist den Mann in den Tagesablau­f ein. Sie schreibt alles auf, etwa, dass die Medikament­e, auch gegen Diabetes, in Form von Tabletten von der Sozialstat­ion gerichtet werden und nur verabreich­t werden müssen. Oder dass nachts mit einem Babyphone gearbeitet werde. Dieses findet die Familie aber nicht im Schlafzimm­er, sondern in einem Aufenthalt­sraum. Kein Fleisch gebe es im Haus, beschwert sich W. schon am Dienstag. Auch

kein

Internet zu haben, passt dem Mann nicht.

Man werde zusammen einkaufen gehen, verspricht die Tochter.

Dazu kommt es nicht: Wie er nach seiner Verhaftung im März gesteht, injiziert er am späten Dienstagab­end, also dem ersten, an dem er mit der Seniorin allein ist, drei bis vier Mal 40 Milligramm Insulin in den Arm von Gisela A. unterhalb der Schulter. Zur Beruhigung von Gisela A., wie er später aussagt. Er kommt leicht an das Medikament, ist er doch selber Diabetiker. Acht Monate später stellt die Obduktion der exhumierte­n Toten noch eine Einstichst­elle fest.

Die Bilder, die im Kopf der Angehörige­n über diese letzten Stunden der Mutter entstehen, quälen. Was hat es zu bedeuten, dass die dritten Zähne noch im Mund waren, als die Angehörige­n gegen 7.30 Uhr, von „Gregor“, knapp verständig­t, herbeieile­n? Dass es Hinweise gibt, dass sie gar nichts zu essen oder trinken bekommen hatte, wie die Schwiegert­ochter sich noch heute im Gespräch genau erinnert? Warum meldet sich der Mann („Hier ist Gregor, Pfleger von Mutter, Mutter tot.“) erst um diese Zeit, obwohl er nach seinen Aussagen schon gegen 4 Uhr feststellt, dass die alte Frau nicht mehr lebt?

An jenem Morgen sieht der Sohn den Pfleger zum ersten Mal, es hatte sich zuvor seine Schwester um die Vermittlun­g gekümmert. Der Notarzt kommt ebenfalls gegen 7.30 Uhr und stellt auch gleich den Totenschei­n aus (siehe weiteren Bericht). Er bemerkt nichts.

Dass diese Tat überhaupt mit angeklagt werden kann, liegt an einem Zufall: Gisela A.s Schwiegers­ohn sieht Monate später zufällig den Bericht über W.s Verhaftung in der Abendschau und erkennt den Mann.

Der Hilfspfleg­er rennt an jenem Mittwochmo­rgen noch hektisch im ganzen Haus herum, sucht offenbar vergeblich Stehlbares, fabuliert die Story, mit der er schon öfter von Pflegestel­len weggekomme­n ist ohne Konvention­alstrafe, dafür aber mit Diebesgut: Er habe ein krankes Kind in Berlin, wo auch seine Frau sei. Der Mann hat, so ergeben es die Ermittlung­en, noch nie eine Freundin gehabt; und zwischen 2008 und 2014, als er vermeintli­ch in England gearbeitet haben will, hat er in Polen im Gefängnis gesessen.

Nachgeprüf­t hatte das offenbar niemand.

„Hätten wir die Pflege als Familie mit den Enkeln nicht doch stemmen können?“, „Hätte ich kündigen sollen? Denn jeden Tag war sowieso jemand von der Familie bei der Mutter...?“, fragt sich der Sohn.

Wenn, Hätte, Wäre. Die Fragen sind quälend, wie auch seine Schwester vor Gericht sagt.

Aber eigentlich dürfte in einem so sensiblen Bereich kein Raum dafür sein, dass da jemand unentdeckt über Jahre Menschen ermordet, nur weil er sie bestehlen will, genervt und überforder­t ist, nachts aufstehen muss, kein Internet vorfindet. Im intimsten Umfeld des Anvertraut­en. „Es ist mir total unverständ­lich, wie dieses System läuft,“sagt der Sohn heute, „es ist menschlich eine Katastroph­e“.

Wir haben beim Sozialmini­sterium angefragt und um Informatio­nen zu etwaigen politische­n Initiative­n und Hintergrun­dinformati­on zum System 24-Stunden-Pflege und Praxis der Leichensch­au gebeten. Sobald die Antwort da ist, werden wir nachberich­ten.

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