Zeugenaussagen werfen grundsätzliche Fragen auf
Der Notarzt, der den Totenschein ausgestellt hat, hat die Einstichstelle nicht gesehen
SPAICHINGEN/MÜNCHEN - Erst neun Monate nach dem Tod von Gisela A. stellte sich heraus, dass die betagte Frau ermordet worden ist – mutmaßlich von ihrem Pfleger Grzegorz W. Der Arzt, der die Leichenschau vorgenommen hat, hat die Spuren des Mörders nicht erkannt.
Beim Prozess gegen Grzegorz W. am Landgericht München (wir haben berichtet) haben jetzt drei Ärzte ausgesagt, die mit dem Fall zu tun hatten – darunter der Spaichinger Mediziner, der als Notarzt als erster am Tatort war. Er war von Grzegorz W. am frühen Morgen des 26. Juli 2017 gerufen worden. Er untersuchte den Leichnam von Gisela A., die im Bett lag – und ging rasch von einem natürlichen Tod aus. „Ich hatte nicht den geringsten Anlass, dass etwas nicht in Ordnung war“, sagte er als Zeuge vor dem Schwurgericht aus.
Er stellte fest, dass die Verstorbene bereits seit einigen Stunden tot sein musste. Dass der Tod unnatürlich war, fiel dem erfahrenen Mediziner nicht auf – er ging von Herzversagen aus, zumal er von der Vorgeschichte der Patientin wusste: Sie hatte an mehreren schweren körperlichen Erkrankungen gelitten und litt an Demenz. „Es gab keinen Hinweis auf Fremdeinwirkung“, so der Arzt. Die Einstichstelle der tödlichen Insulinspritze, die Grzegorz W. laut
Anklage gesetzt hatte, war ihm nicht aufgefallen – allerdings räumte er auf Nachfragen des Gerichts und von Nebenkläger-Vertreter, Rechtsanwalt Bernhard Mussgnug, ein, dass seine Untersuchung oberflächlich war. Denn: Der Tod sei „altersbedingt zu erwarten“gewesen.
Und so „war die Leichenschau nicht so, wie sie sein sollte, das gebe ich zu“, räumte er ein. So habe er den Leichnam „nur halb“auf die Seite gelegt, um den Rücken zu untersuchen, nicht wie vorgeschrieben komplett entkleidet und auch nicht die Arme angeschaut – dann wäre ihm wohl die Einstichstelle der tödlichen Spritze aufgefallen. Und nein, „lege artis“, nach den Regeln der ärztlichen Kunst, sei die Leichenschau nicht erfolgt.
Erst viele Monate später kam der Verdacht auf, der Tod von Gisela A. sei nicht aus Alters- und Krankheitsgründen eingetreten. Familienmitglieder sahen die Fahndungsfotos von Grzegorz W. im Fernsehen, nachdem er verhaftet worden war, und erkannten in ihm den Pfleger ihrer Mutter – er war zum Zeitpunkt ihres Todes erst zwei Tage vor Ort. Die Kinder teilten ihren Verdacht der Polizei mit, die Staatsanwaltschaft ließ den Leichnam exhumieren. Bei der Obduktion war sowohl das Insulin nachzuweisen als auch die Einstichstelle noch zu erkennen. Wenn die Tote verbrannt worden wäre, wäre der Mord wohl nicht mehr zu beweisen gewesen.
Neben der Tat selbst bleiben Fragen: Dass in Deutschland täglich Tötungsund Suizid-Delikte aufgrund mangelhafter Leichenschauen nicht entdeckt werden, gilt Fachleuten als sicher. „Es passieren viele Irrtümer, oft ist die wahre Todesursache eine ganz andere, als im Totenschein von den Ärzten angegeben“, zitierte die Wochenzeitung Die Zeit erst im vergangenen Jahr den Rechtsmediziner Klaus-Peter Philipp von der Universität Greifswald. Das Münchner Gericht hakte an dieser Stelle kaum und nur oberflächlich nach – eine Schuldzuweisung erfolgte nicht.