Das kriselnde Klassenzimmer
Statt in der Schule lernen Schüler seit Monaten von zu Hause – Der Fernunterricht stellt Jugendliche vor Herausforderungen, die nicht erst durch die Corona-Krise entstanden sind
Es ist die erste Englischstunde seit Wochen. Statt 45 Minuten dauert sie in Lukas’ Erinnerung, wenn überhaupt, nur halb so lang. Der Siebtklässler des Progymnasiums in Altshausen hat sich mit einem Laptop in sein Kinderzimmer zurückgezogen. Zuletzt hatte der Lehrer Aufgaben per Mail verschickt, wollte jetzt aber mal online unterrichten, über die App „Netzklasse“. Darüber kann sich eine Klasse via Mikrofon zusammenschalten. Zu sehen ist eine virtuelle Tafel, auf die der Lehrer schreiben kann. Dazu gibt es ein Chatfenster für Fragen und Anmerkungen. Aber die Technik streikt. Lukas hat Probleme bei der Anmeldung. Als er es mit ein paar Minuten Verspätung ins virtuelle Klassenzimmer schafft, ist der Lehrer schon dabei, neue Grammatikregeln zu erklären. Knapp 20 Minuten kann der 13-Jährige folgen, als plötzlich das Tonsignal abbricht. Der Lehrer habe wohl nichts davon bemerkt, sagt der Schüler. Es bleibt jedenfalls seine erste und letzte Englischstunde per Videokonferenz. Stattdessen schickt der Lehrer wieder Aufgabenblätter per Mail.
In den vergangenen Wochen ist an vielen Schulen experimentiert worden. Vor knapp drei Monaten wurden sie geschlossen, der Unterricht wurde seither über die Ferne fortgesetzt. Im Mai öffneten die Schulen wieder, zunächst nur für Viertklässler und Prüfungsjahrgänge dieses und des kommenden Jahres. Ab Montag dürfen auch alle anderen wieder kommen, zumindest blockweise und auf Abstand. Viele Schüler freuen sich: Denn der Fernlernunterricht ist nicht reibungslos verlaufen. Weil es an technischer Ausstattung, Motivation oder Betreuung und persönlichem Kontakt fehlte. Das vermitteln Gespräche mit Schülern aus der Region. Wie sehr hat die neue Lernsituation die Jugendlichen belastet? Und was gibt es jetzt aufzuarbeiten?
Eine Menge, wenn es nach Leandro Cerqueira Karst geht. Der 20-jährige Birkenfelder ist Vorsitzender des Landesschülerbeirats in Baden-Württemberg. In der vergangenen Woche kritisierte er das Kultusministerium. Es fehle an einem einheitlichen Konzept, das die Öffnung der Schulen regelt. „Jede Schule macht das anders. Es ist Schwachsinn, Schüler jeden Tag für nur zwei Stunden in die Schule zu schicken“, urteilt Karst. Zudem habe jede Einrichtung andere Voraussetzungen, vor allem mit Blick auf die technische Ausstattung. Außerdem fehle Lehrkräften digitale Kompetenz. Das sei auch kein coronagemachtes Problem. „Es ist Glückssache, wo man in BadenWürttemberg auf die Schule geht. Wir brauchen flächendeckend einheitliche Standards“, fordert Karst. In einer idealen Welt wäre das Schulsystem ein Kaleidoskop, das alle Fähigkeiten, Mittel und Lehrkräfte stets gleichmäßig verteilt. Krisengeschüttelt hält der Blick in die Röhre einem aber nur den Spiegel vor – kein buntes Mandala. Dass nicht alles rundgelaufen ist in den vergangenen Wochen, zeigt auch eine repräsentative Forsa-Umfrage unter Schulleitern in Baden-Württemberg. Im April gaben 45 Prozent der Befragten an, weniger gut bis schlecht mit dem Fernunterricht klarzukommen.
Ein verregneter Nachmittag in den Pfingstferien auf einem Bauernhof in Hohentengen. Melina (Name von der Redaktion geändert) wippt auf dem Küchenstuhl hin und her, immer wieder schleichen Katzen durch ihr Blickfeld. Eine habe gerade Nachwuchs bekommen, erklärt die Zwölfjährige stolz. Sie greift nach einer Strähne ihrer etwas zerzausten, langen, blonden Haare und zwirbelt sie mit den Fingern. In den vergangenen Wochen hat sie sich nur schwer auf den Unterricht konzentrieren können. Normalerweise stehe sie um sechs Uhr auf, um pünktlich um acht Uhr in der Leopoldschule in Altshausen zu sein. Jetzt schläft Melina bis zehn Uhr, spielt vor allem mit den Katzenbabys, hilft auf dem Hof oder schaut fern. Ein bisschen lerne sie auch. „Die vergangenen Wochen haben sich mehr wie Ferien angefühlt. Ich brauche einen Lehrer und ein Klassenzimmer um mich herum. Da habe ich den Impuls: Jetzt wird gearbeitet.“Inzwischen habe sie zwar das meiste erledigt. Aber sie mache sich Sorgen, ob der Stoff auch wirklich sitzt. „Eigentlich möchte ich im kommenden Schuljahr vom Werkrealauf Realschulniveau wechseln.“
Um schlechte Bewertungen oder die Versetzung müssen Schüler aktuell nicht fürchten. Leistungen aus dem Fernunterricht dürfen laut Ansage des Kultusministeriums nicht bewertet werden. Zunächst muss der Stoff im Präsenzbetrieb wiederholt werden. Klassenarbeiten, die in den vergangenen Wochen hätten stattfinden sollen, dürfen ausfallen. Außerdem werden grundsätzlich alle Schüler ins nächste Schuljahr versetzt. Diese Entscheidung lobt Landesschülersprecher Karst. Den versäumten Stoff könne man eh nicht mehr auffangen.
Sabrina Müller hat derweil „entspannt die Beine hochgelegt“. Zwar ging es bei ihr nicht um die Versetzung ins nächste Schuljahr, aber immerhin um den Abschluss. In den vergangenen Wochen hat die 17-Jährige ihre Prüfungen an der Dollinger-Realschule in Biberach abgelegt. Ihre Haare hat sie zu einem lockeren Zopf gebunden, der sich am Hinterkopf etwas aufgelöst hat. Sie trägt T-Shirt und Jogginghose. „Das war Standard in den vergangenen Wochen. Manchmal habe ich sogar noch die Schlafhose angelassen, wenn wir morgens um acht Uhr eine Videokonferenz hatten.“Dann habe sie sich einfach mit Laptop ins Bett gelegt. Ansonsten habe sie sich den Lernstoff flexibel eingeteilt, Englisch sogar vernachlässigt. „Da bin ich sowieso schlecht.“Insgesamt sei sie gut klargekommen, hatte nach den Prüfungen ein gutes Gefühl.
Dass der Fernunterricht nicht allen so leicht fällt, ist Sabrina bewusst. Sie erzählt von einem Mitschüler, der nicht verstanden habe, wie er das Programm für die Videokonferenzen installieren kann. Sie habe versucht zu helfen. Vergeblich. Einer Sechstklässlerin habe sie regelmäßig via Messenger geholfen. Und einer Klassenkameradin hat sie alle Arbeitsaufträge abfotografiert, weil sie sonst nicht auf diese hätte zugreifen können. „Sie lebt in einer fünfköpfigen Familie mit zwei PCs. Das hat einfach nicht gereicht.“
Auch ihre Mutter habe kurzerhand ein Laptop für sie gekauft, erklärt Sabrina. Das sei keine Selbstverständlichkeit. Das hat auch die Politik erkannt. Der Bund hat im Rahmen des Digitalpakts ein Soforthilfeprogramm gestartet. 65 Millionen Euro fließen nach Baden-Württemberg für digitale Endgeräte. Die Landesregierung packt noch einmal die gleiche Summe drauf. Das Geld ist für Laptops und Tablets vorgesehen, die für Schüler als Leihgeräte bereitstehen sollen. „Damit können wir rund 20 Prozent aller Schüler im Land versorgen“, erklärt das Kultusministerium auf Anfrage. Und stellt zugleich klar: Alle Schüler
auszustatten, sei zu viel des Guten und nicht leistbar. Ohnehin sei die Ausstattung der Schulen eigentlich Aufgabe der Schulträger. Nur kamen die schon vor der Krise nicht hinterher. Nur jede dritte Schule kann laut Forsa-Umfrage auf digitale Endgeräte zurückgreifen. Dem Rest fehlen nicht nur die Geräte, sondern auch das WLAN, um sie überhaupt erst richtig nutzen zu können.
Belastbare Zahlen, wie viele Kinder nicht für den Fernlernunterricht ausgestattet sind, gibt es nicht. Die Schüler berichten von einzelnen Klassenkameraden, denen die Lehrer Arbeitsaufträge per Post oder Privattaxi geschickt hätten, weil sie anders nicht erreichbar gewesen wären. Und ja, dazu gehört auch jene Spezies von Schüler, die abgetaucht ist, weil sie die Schulschließungen als Corona-Ferien ausgelegt hat. Auch hierbei handele es sich um Einzelfälle. Ungeachtet des Nicht-erreichbar-sein-Wollens oder -Könnens: Die Kommunikation, bezeugen alle Schüler, habe in den vergangenen Wochen gelitten, vor allem durch fehlenden persönlichen Kontakt. Dieses Problem legt auch die Forsa-Umfrage nahe: Kontakt zu Eltern und Schülern zu halten, zählt jeder dritte Schulleiter zu den größten Problemen in der Corona-Krise.
Aber auch der Verbindungsaufbau von Schüler zu Lehrer war nicht immer einfach.
Keine direkte Erreichbarkeit der Lehrer, oft nur per Mail, die im schlechtesten Fall erst nach zwei Tagen beantwortet wurde: Auch wenn sich die meisten Lehrer um eine gute Betreuung bemüht hätten, berichten die Schüler von solchen Ausreißern. Bei Leon (Name von der Redaktion geändert) ist die Kommunikation mitunter daran gescheitert, dass es keine Vertretungsregelungen gab. „Meine Mathelehrerin musste überraschend ins Krankenhaus, sie hatte eine Notoperation. Da kann sie ja nichts dafür. Aber ich habe ihr eine Nachricht geschickt und nie eine Antwort darauf bekommen.“An wen er sich stattdessen hätte wenden können? Keine Ahnung. An seiner Schule, die Umlachtalschule in Ummendorf, hätten die Lehrer per Mail oder WhatsApp kommuniziert. Leider eher sparsam, bedauert der Schüler.
Grundsätzlich müssen Lehrer auch im Fernlernunterricht während der normalen Dienstzeit erreichbar sein. „Es macht mich nicht stolz, dass es diese Fälle gibt. Lehrer müssen Aufgaben kontrollieren und Rückmeldung geben“, sagt Gerhard Brand, der Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) in Baden-Württemberg. Trotzdem hätten die meisten Kollegen in der Krise einen guten Job gemacht. „Wenn eine Schule nicht digital ausgestattet ist und deren Lehrkräfte nicht fortgebildet sind, dann bleibt nicht viel übrig als Material per Post zu schicken.“Aktuell müssten Lehrer auf private technische Geräte zurückgreifen, da sei jeder unterschiedlich aufgestellt. „Noch vor den Schülern müssten eigentlich Lehrer mit Endgeräten versorgt werden. Am besten mit einem Jahr Vorlaufzeit, in dem sie lernen, wie man die Geräte pädagogisch sinnvoll einsetzt.“Aber digitale Technik hin oder her: Schule könne ihrer Aufgabe eigentlich nur im Präsenzbetrieb gerecht werden, betont Brand. Im Fernunterricht ließe sich keine Sozialkompetenz vermitteln.
Ganz im Gegenteil, widerspricht Maria Wirzberger. „Ich behaupte, dass sich alles aus dem Präsenzbetrieb auch digital umsetzen lässt.“Die Juniorprofessorin forscht und doziert an der Universität Stuttgart am Institut für Erziehungswissenschaft. Ihr Spezialgebiet: Lehren und Lernen mit intelligenten Systemen. Der Umgang mit neuen Medien sei vor allem Einstellungssache. „Auch wenn noch nicht alles perfekt funktioniert, ist es sinnvoll, zu starten.“Lehrkräfte müssten digitale Techniken offen mit den Schülern reflektieren und bewerten. Die Krise verlange mehr Selbstorganisation, von Schülern und Lehrern gleichermaßen. „Lehrkräfte sind aktuell ganz anders gefordert. Im virtuellen Klassenzimmer kann man nicht einfach auf einzelne Schüler zugehen. Da braucht es mehr Einzeltermine.“Statt 45-minütige Videokonferenzen abzuhalten, empfiehlt Wirzberger kürzere Einheiten, die im Vorfeld von den Schülern vorbereitet werden. Gerne auch experimentell, mit kleinen Versuchen. Durch den Einsatz digitaler Techniken könne inhaltlich viel gezielter auf individuelle Bedürfnisse der Schüler eingegangen werden.
Zur Wahrheit gehöre aber auch: Noch hake es an der Infrastruktur und dem Wissensstand zu neuen Medien. Bis der digitale Wandel vollzogen sei, dürften wohl noch einige Jahre vergehen, schätzt Wirzberger. Aber der erste Schritt sei getan. Das betonen auch Landesschülerbeirat und der VBE. Ohne Corona wären manche Investitionen vermutlich erst viel später erfolgt.
Das Kultusministerium hat in der Krise die Bildungsplattform Moodle mit Serverkapazitäten aufgestockt und um ein Videokonferenztool erweitert. Im vergangenen Jahr haben Bund und Länder außerdem den Digitalpakt geschnürt, um Schulen technisch aufzurüsten. Darin ist unter anderem ein Fortbildungsprogramm für Lehrkräfte enthalten. Ehe Schulträger Gelder beantragen können, müssen sie ein Konzept für den Einsatz der Medien vorlegen. Dieses auszuarbeiten, brauche Zeit, betont das Kultusministerium. Bislang haben die Schulträger landesweit erst sieben Millionen Euro aus dem Fördertopf abgerufen. Bis 2024 stehen 650 Millionen Euro bereit. Auf sich warten lassen derweil auch noch die Konzepte für das kommende Schuljahr. Während Kitas und Grundschulen wieder in den Regelbetrieb starten dürfen, müsse man bei den Älteren die Infektionslage weiter verfolgen, sagt das Kultusministerium. Man gehe davon aus, dass es weiterhin einen Wechsel aus Fern- und Präsenzlernen gibt. Ein Modell, das sich manch ein Schüler sogar langfristig – auch nach der Pandemie – vorstellen kann.
Am Küchentisch von Familie Meier (Name von der Redaktion geändert) in Hohentengen sendet ein Tablet Motivationsschübe aus. Als Marie von den vergangenen Wochen im Fernunterricht der Sonnenlugerschule, eine Gemeinschaftsschule in Mengen, erzählt, wirkt sie erst abwesend und gelangweilt. Die Sechstklässlerin sagt, dass sie gerne mehr zu tun gehabt hätte, sie mit dem täglichen Lernpaket immer schnell durch war. Dabei wandert ihr Blick durch das Zimmer, während sie mit ihren Händen pinken Schleim knetet. Sie formt eine Wurst, wickelt diese zu einer Schnecke und rollt daraus schließlich zwischen den Handflächen eine Kugel. Wurst, Schnecke, Kugel. Plötzlich schlägt sie den Klumpen auf die Tischplatte. „Ich kann doch mal die App zeigen, die wir benutzen“, schlägt sie vor. Ihre Augen blitzen auf. Marie schnappt sich das Tablet und startet das Lernprogramm. Darin stellen Lehrer fächerübergreifend Material bereit. Die App nutze sie täglich, sie habe sogar schon Themen aus der siebten Klasse durchgespielt. Jede Lektion funktioniert spielerisch und über ein Belohnungssystem. Fleiß und richtige Antworten zahlen sich aus: Marie hat schon 568 Sterne und 88 Pokale eingeheimst. Am meisten spekuliert sie aber auf Münzen. Die bekommt man nur für ausgewählte Aufgaben und kann sie nach der Lerneinheit einlösen. Zum Beispiel kann Marie ihrem Avatar – ein Profilbild, das sie von sich erstellt hat – mit den Münzen neue Kleidung oder Accessoires kaufen. Zuletzt hat sich Marie neue Ohrringe gegönnt.
„Noch vor den Schülern müssten Lehrer mit Endgeräten versorgt werden.“
Gerhard Brand, VBE-Landesvorsitzender