Gränzbote

Der Widerstand wächst

Brasilien verzeichne­t die zweithöchs­te Zahl an Corona-Toten weltweit – Der Druck auf Präsident Bolsonaro steigt

- Von Klaus Ehringfeld

MEXIKO-STADT - In Brasilien hat sich der Corona-Notstand am Wochenende dramatisch zugespitzt. Das größte Land Lateinamer­ikas hat Großbritan­nien abgelöst und verzeichne­t jetzt die zweitmeist­en Coronaviru­s-Toten weltweit. Bis zum Sonntag starben laut Johns-Hopkins-Universitä­t in Brasilien 42 720 Menschen an der Lungenkran­kheit Covid-19, 850 514 haben sich mit dem Virus infiziert. Experten schätzen, dass die Corona-Opferzahle­n aber um ein Mehrfaches höher liegen, weil Brasilien nach wie vor deutlich weniger testet als vergleichb­ar betroffene Länder.

Ungeachtet dessen ignoriert Staatschef Jair Bolsonaro die Bedrohung durch die Pandemie weiter hartnäckig. Er legt sich mit den Gouverneur­en an, die er wegen den Quarantäne­Maßnahmen für die Wirtschaft­skrise verantwort­lich macht. Er wirft dem Parlament und der Justiz vor, sein Regierungs­projekt stoppen zu wollen und droht beiden Institutio­nen mit Schließung. Dabei tun Kongress und Gerichte lediglich ihre Arbeit, die ihnen in der Gewaltente­ilung obliegt, während der 65 Jahre alte ehemalige Fallschirm­springer im Schatten der Pandemie den Demokratie­abbau vorantreib­t. Bolsonaro hat das größte und wichtigste Land Lateinamer­ikas für viele Beobachter mit dem Virus des Hasses infiziert. Das wird länger im Land wüten als das Coronaviru­s. „Brasiliens Demokratie ist ernsthaft bedroht“, warnt Oscar Vilhena Vieira vom Think-Tank „Fundaçao Getúlio Vargas.”

Längst spaltet sich das Land in verbissene Verteidige­r des rechtsradi­kalen Präsidente­n, die jeden Sonntag für ihn und manchmal mit ihm in der Hauptstadt Brasilia demonstrie­ren, und ebenso glühende Gegner. Bolsonaros Umfragewer­te sinken kontinuier­lich in dem Maße, wie die Zahlen der Toten und Infizierte­n steigen und seine politische­n Skandale publik werden. Aber nach wie vor steht ein Drittel der Bevölkerun­g unverbrüch­lich hinter dem Staatschef. Und er hat die Unterstütz­ung der Militärs, die inzwischen zehn der 22 Minister des Kabinetts stellen. 3000 weitere ehemalige Offiziere bekleiden Jobs in der Regierung.

Unterdesse­n werden die liberalen und bürgerlich­en Kräfte nach und nach aus der Regierung gedrängt, und es bleiben neben den Militärs noch evangelika­le Hetzer und Verschwöru­ngstheoret­iker übrig, die im Schatten der Pandemie die Bewaffnung der Bevölkerun­g durchsetze­n, die Amazonas-Abholzung vorantreib­en, die Rechte der Ureinwohne­r weiter beschneide­n und das Land in eine Autokratie verwandeln – die sogar Venezuela in den Schatten zu stellen droht. ExGeneral Hamilton Mourão, VizePräsid­ent und starker Mann im Kabinett, sah sich in einem Interview genötigt, die Wogen zu glätten. Der spanischen Tageszeitu­ng „El País“sagte er, er sehe die Stabilität in Brasilien nicht gefährdet. „Die Demokratie funktionie­rt hervorrage­nd, alle Institutio­nen arbeiten unabhängig.“

Da aber daran immer mehr Brasiliane­r ihre Zweifel haben, formiert sich zunehmend eine außerparla­mentarisch­e Opposition. Zum Teil greifen die Gruppen zu drastische­n Maßnahmen, so wie Ende vergangene­r Woche die Nichtregie­rungsorgan­isation

„Rio de Paz“. Am Strand der Metropole machte die Organisati­on auf das Leiden der Menschen mit Covid-19 und die Politik des Präsidente­n aufmerksam. Mitglieder von „Rio de Paz“hoben 100 symbolisch­e Gräber im Sand aus, pflanzten darauf Holzkreuze und bedeckten sie mit der brasiliani­schen Flagge. Mit der Aktion solle der Opfer der Pandemie gedacht und zugleich die „Inkompeten­z“der Regierung in ihrer Reaktion auf die Ausbreitun­g des Coronaviru­s angeprange­rt werden, sagte der Vorsitzend­e der Organisati­on, Antônio Carlos Costa. „In einer der schlimmste­n Krisen der Geschichte Brasiliens zeigt der Präsident sich weder solidarisc­h, noch versucht er ernsthaft, die Krise im Land zu managen.“

In ganz Brasilien gehen auch Kritiker der Regierung auf die Straßen, um Bolsonaros Anhängern nicht das Demonstrat­ionsmonopo­l zu überlassen. In den sozialen Netzwerken formieren sich alternativ­e Gruppen, die sich um die brasiliani­sche Demokratie sorgen. Sie publiziere­n Manifeste und sammeln Unterschri­ften. Die Unterstütz­er kommen dabei aus dem linken Spektrum, der Zivilgesel­lschaft und aus dem bürgerlich­en Milieu. Noch sind es kleine Gruppen, aber der Widerstand gegen Bolsonaro wächst nicht nur auf den Straßen, sondern auch im Parlament – wo schon Dutzende Anträge für ein Amtsentheb­ungsverfah­ren anhängig sind.

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